Karriere, die ein Abstieg ist

1989:  Auch im Kreis Gütersloh ist die Zahl der Drogenabhängigen in den vergangenen Jahren beständig gestiegen. Zwölfjährige, die Alkohol oder Haschisch regelmäßig und in Mengen konsumieren, sind keine Seltenheit mehr. Und das durchschnittliche „Einstiegsalter“ für harte Drogen wie Heroin liegt bei 16 Jahren. (Zwölfteilige Serie zum Drogenproblemen).

Gütersloh – Stadt im Grünen, Kreis Gütersloh -Industriekreis im Grünen. Für Werbetexter ist hier die Welt noch in Ordnung. Solange sie sorgsam oberflächlich bleiben. Denn auch zwischen grünen Ems-Auen und Teutoburger Wald fänden sie sonst Risse im Gesellschaftsgefüge bis hin zu einer Subkultur, die mit dem „herkömmlichen Leben“ nicht mehr viel gemein hat. Warum auch sollte sich der Kreis Gütersloh vom Kreis Lippe, dem Niederrhein oder dem Sauerland unterscheiden, wenn es um die Menschen und ihre Probleme geht. Speziell die Anforderungen, denen sich Jugendliche gegenüber sehen, sind überall in Nordrhein-Westfalen die gleichen. Und damit auch die daraus resultierenden Ängste. Vor der Schule mit ihrem Stress, der ungewissen beruflichen Zukunft, dem Konsum ohne Sinn und Ende. Auf viele Fragen bleibt unsere Gesellschaft wachsamen, kritischen Jugendlichen die Antwort schuldig. Mit dem Ergebnis, dass die Zahl der „Aussteiger“ wächst, jener jungen Leute, die in dem für Millionen vorgeschriebenen Lebensweg Schule-Beruf-Familie-Karriere-Eigenheim nichts Erstrebenswertes mehr sehen und das „Alternative Leben“ versuchen. In Wohngemeinschaften oder im makrobiotischen Gemüseanbau, in ständig wechselnden Beziehungen oder als einsamer Schafhirte, bei trommelfellzerstörenden Rockmusik oder in der Scheinwelt der Drogen.

Auch im Kreis Gütersloh ist die Zahl der Drogenabhängigen in den vergangenen Jahren beständig gestiegen. Zwölfjährige, die Alkohol oder Haschisch regelmäßig und in Mengen konsumieren, sind keine Seltenheit mehr. Und das durchschnittliche „Einstiegsalter“ für harte Drogen wie Heroin liegt bei 16 Jahren. Mitarbeiter der Drogenberatungsstelle Gütersloh schätzen die Zahl der jugendlichen Fixer, also derjenigen, die an der Heroin-Spritze hängen, im Kreisgebiet auf rund 120, die der Konsumenten anderer Drogen (Haschisch, LSD, Tabletten) auf 2000 bis 3000. Sie bilden die „Szene“, in die nur der einsteigen kann, der sich durch Haschpfeife, LSD-Plättchen oder gar einen Nadeleinstich in der Armvene „ausweisen“ kann, und der die gleiche Sprache spricht. Wer auffällt, ist „out“, draußen, ist verdächtig, ein Spitzel des Rauschgiftdezernats zu sein.

Ein Vorwurf, der Sebastian S. nie traf. Jahrelang gehörte er zum harten Kern der Gütersloher „Szene“. Mit dreizehn Jahren probierte er zum ersten Mal Haschisch und Valium, mit vierzehn setzte er sich die erste Heroin-Spritze, den ersten „Schuss“. Heute ist Sebastian S. 22 Jahre und „clean“, weg vom Stoff, dank einer Freundin, die trotz seiner Zwangseinweisung in ein Landeskrankenhaus und einer einjährigen Haftstrafe zu ihm hielt, und aufgrund vieler Gespräche mit den Sozialarbeitern in der Gütersloher Drogenberatungsstelle ( „Drobs“ ). Aus schlaggebend war letztlich jedoch sein eigener Wille, vom Heroin loszukommen. Sebastian S. rückblickend: „Die bei der Drobs können auch nur helfen, wenn man sich helfen lassen will. Und dazu müssen manche erst am Nullpunkt ankommen!“

Von Sebastian S. und seiner steilen“ Drogenkarriere“ ist in dieser Serie oft die Rede. Auch von Jürgen Schildknecht, dem Leiter der Drogenberatungsstelle Gütersloh, und von Kriminaloberkommissar Karl-Heinz Wallmeier, bei der Kreispolizeibehörde Gütersloh für die Rauschgiftbekämpfung zuständig. Und von den vielen ungenannten Jugendlichen, die zwischen Langenberg und Borgholzhausen, Harsewinkel und Schloss Holte-Stukenbrock in „ihrer“ Droge Glück, Erlösung, Bewusstseinserweiterung, Stärkung oder die Lösung ihrer Probleme suchen – und, wenn überhaupt, meist zu spät erkennen, dass durch die Droge der Berg der Probleme nur noch höher wird, schier unüberwindlich.

Die ersten Lebensjahre verbrachte Sebastian S. in einem Kinderheim. Mit der Adoption bekam er dann zwar Eltern und einen Stiefbruder, aber kein „Zuhause“. Denn der Vater war Alkoholiker, und die Mutter zog den eigenen Sohn dem Adoptivkind vor. Als die Ehe geschieden wurde, kam Sebastian S. zum Vater. Und weil dieser damals mehrmals den Wohnort wechselte und beruflich sehr angespannt war, blieb der junge Sebastian oft sich selbst überlassen.

Vater und Sohn lebten in Duisburg – Sebastian war dreizehn Jahre alt -, als es passierte: Im Arzneischrank im Badezimmer fand der Junge Valium („Mal sehen, wie das wirkt!“), und schon zwei Monate später kam er in einer Diskothek an Haschisch (“ Probier mal, ist ganz toll! „). Erklären kann sich Sebastian S. seine rasante „Drogen-Karriere“, die ein Abstieg war, bis heute noch nicht völlig. Tatsache ist jedoch, dass auch er „umstieg“, als seine Duisburger Freunde zum Heroin gefunden hatten. Da war er gerade vierzehn Jahre alt geworden.

Der Einstieg in die Drogenszene ist von vielen Seiten aus seiner Zwangseinweisung in ein möglich. Jugendliche, die keinen Arbeitsplatz bekommen, greifen aus Langeweile zuerst zur Flasche, später zur Droge, in deren rosaroter Wolke sich die Sorgen und Nöte für Stunden verflüchtigen. Ein Weg, den Schulstress zu verdrängen, ist die Neurose, ein anderer … siehe Jugendarbeitslosigkeit. Die Ursache ist in beiden Fällen die gleiche: Die Jugendlichen fühlen sich den Anforderungen der Umwelt, den Erwartungen die in Schule und Beruf in sie gesetzt werden, nicht gewachsen. Angst vor dem Versagen führt zu Resignation, zur Ablehnung der „normalen“ Gesellschaft und schließlich zur Flucht in eine Scheinwelt, in der der „Schuss“ helfen soll, die Probleme zu lösen, sie aber doch nur verdrängt.

Diesen Weg gehen vor allem jene Jugendlichen, die bei ihren Eltern keinen Halt finden. Denn wo die Erwachsenen, selbst auf Konsum und Wohlstand fixiert, glauben, mit Geld den Wunsch der Kinder nach Zuwendung und Ansprache befriedigen zu können, verlieren sie letztlich nur an Autorität und Vertrauen. Sie liefern so den Grund dafür, dass Jugendliche bei Altersgenossen die Verhaltenssicherheit suchen, die ihnen ihre Eltern nicht geben konnten (Mitscherlich: Der „Verlust“ von Vater und Mutter bedeutet den Verlust der Identifikationsfunktion der Familie).

Wenn schon Eltern ihren Kindern kein sinnvolles Leben vorleben können, um wie viel schwerer wird dies anderen sozialen Gruppen fallen?! Dabei brauchen gerade junge Menschen festen Halt. Aber wo? Einerseits soll der Jugendliche gleichzeitig den verschiedenen Erwartungen von Familie, Ausbildung, Kirche, Schule, Betrieb, Verein, Beruf und Freunden entsprechen, andererseits nehmen ihm Versachlichung, Bürokratisierung, Profitstreben, Konsumorientierung und Doppelmoral die Möglichkeit, zu einer festen Rolle, zu sich selbst zu finden. Verwirrt, glaubt er schließlich, in einer Gruppe Gleichaltriger am ehesten zu einem sinnvollen Leben finden zu können, ohne zu erkennen, dass sich auch dort Probleme nicht lösen lassen. Im Gegenteil, sie vervielfältigen sich eher noch.

Dass bereits bei Zehnjährigen im Elternhaus die Grundlage für die spätere Sucht gelegt werde, glaubt der Gütersloher Rauschgiftexperte Karl-Heinz Wallmeier: „Das Kind sieht die Eltern rauchen, Bier trinken und Tabletten schlucken. Schwierig ist es dann, dem Kind den Unterschied zu erklären!“ – Zumal, wenn es in letzter Konsequenz diesen Unterschied gar nicht gibt. Nikotin ist Nikotin, Alkohol ist Alkohol, beides sind Drogen, für Erwachsene legalisiert, für Kinder verboten.

Der Reiz des Verbotenen kommt deshalb verstärkend hinzu. Wallmeier: „Wir müssen uns damit abfinden, dass viele Zehnjährige bereits rauchen. Und zwölfjährige Betrunkene sind keine Seltenheit mehr, auch nicht im Kreis Gütersloh!“

Wer noch auf der Suche ist nach der eigenen Identität – und das sind nun einmal Kinder und Jugendliche – hört leicht auf die falschen Ratgeber. Wer auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen als Individuum noch nicht stark genug ist, kann leicht an dem Konflikt scheitern, der sich aus verstärkten Triebregungen in der Pubertät einerseits und der Ablösung von den Eltern andererseits ergibt. Dann nehmen die Versuche des Jugendlichen, das Leben zu meistern“, Fluchtcharakter an, wird die Droge dazu benutzt, dem Konflikt zu entgehen, und so zur letzten Zuflucht für das angeschlagene Ich. Umfragen unter Drogenabhängigen haben dies bewiesen: Auf die Frage nach dem Anlass für den Konsum antworteten die meisten mit „Probleme vergessen machen“. Der Teufelskreis Problem-Droge-Problem, der sich daraus ergibt, ist es auch, der zur psychischen Abhängigkeit führt. Bei Sebastian S. war das nicht anders.