300 Jahre Drahtindustrie in Altena

Die Kunst des Drahtziehens an Auswärtige zu verraten, war den „Zögern“ früher bei Strafe verboten. Sendematerial für „Forum West“, „Guten Morgen aus Essen“ und „Echo West“ aus Mai 1986.

Basismaterial für einen Bericht in „Forum West“, WDR, am 11.8.1986

Von Lothar Kaiser

Wenn Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, schon einmal einen Lastzug gesehen haben, der beladen war mit Rollen aus rostrotem Draht, dann war das wahrscheinlich im Märkischen Kreis. Denn dort ist seit Jahrhunderten der Hauptsitz der deutschen Drahtindustrie. Von insgesamt 65 bundesdeutschen Drahtziehereien haben 40 ihren Sitz im Märkischen Kreis, davon alleine 23 in Altena. Die Altenaer Drahtziehereien stehen in zwei Seitentälern der Lenne, im Netteund im Rahmedetal. Von dort mag der Draht gekommen sein, der schon um 1200 herum in Iserlohn zu Panzerhemden verarbeitet wurde. Besondere Bedeutung in der Drahtindustrie hat das Jahr 1686. Damals, vor 300 Jahren, einigten sich die Drahtproduzenten aus „dem Märkischen“ darauf, da in Lüdenscheid der starke Draht gezogen werden sollte, in Altena der mittlere und in Iserlohn der feine Draht.

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Was hier im Deutschen Drahtmuseum auf der Burg Altena ein Elektromotor im Modell bewegt, hat früher in den umliegenden Tälern ganz schön gerumpelt und gescheppert: Hölzerne „Polterbänke“ waren das, angetrieben von Wasserrädern, die bis zur Erfindung der Dampfmaschine beim Drahtziehen unentbehrlich waren. Auf diesen „Polterbänken“ wurde der Draht für den Ziehvorgang vorbereitet. Und wer bei einem Besuch der Burg mehr über die alten Technik wissen will, findet in dem 73 Jahre alten Museumsführer Fritz Graue einen gelernten Drahtzieher.

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Neben Modellen, Urkunden, Zeichnungen und Bildern, die die Entwicklung der Drahtherstellung von den handwerklichen Anfängen bis zur modernen Produktionsindustrie deutlich machen, sind im Altenaer Drahtmuseum auch jene primitiven Holzbänken zu sehen, auf denen der Draht früher mit Hilfe von Wasserrädern Millimeter um Millimeter durch das sogenannte Hohleisen gezogen wurde, ein Vierkanteisen mit verschieden großen Löchern. Dabei wird der Draht zugleich dünner und länger. Bis heute hat sich an dieser Produktionsweise im Prinzip nichts geändert. Nur dass die Drahtrollen schwerer, die Maschinen schneller und die Arbeitsbedingungen besser geworden sind.

Innerhalb des produzierendes Gewerbes ist die Drahtindustrie eine der vielseitigsten Zuliefererindustrien. Die 65 Drahtziehereien und die 55 Draht verarbeitenden Betriebe, die im Bundesverband Draht zusammengeschlossen sind, sind größtenteils mittelständisch ausgeprägt. Eine Industrie, die insgesamt 15 000 Menschen Arbeit gibt. Was produzieren sie nicht alles: Draht aus Eisen, aus Stahl, Neusilber, Chromnickel, Federstahl, blank, verzinkt, eloxiert, mit Kunststoff ummantelt, verzinnt. Draht gibt es ihn in unzähligen Variationen und für unzählige Zwecke: Als Drahtseil, Schraube, Mutter, Niete, Drahtgewebe und -geflecht, Nagel, Klammer, Haken, Nadel- oder Kugellager, letztere zum Beispiel in der Automobilindustrie. Und immer kommen neue hinzu, in der Unterhaltungselektronik etwa.

Ein anderes Beispiel: Kupferdraht, mit 0,004 Millimetern dünner als ein Menschenhaar, wie er in Weltraumraketen Verwendung findet. Oder, ein tausendstel Millimeter dick, Golddraht für Computerchips, Auch dies Produkte aus dem Märkischen Kreis.

Vieles deutet darauf hin, dass das märkische Sauerland vom frühen Mittelalter an über Jahrhunderte zu den bedeutendsten Industriegebieten Europas zählte. In einer Zeit also, in der es im heutigen Ruhrgebiet lediglich kleine Bauernschaften gab. In den Tälern des Sauerlandes war damals wie heute an Landwirtschaft kaum zu denken. Karge Böden, steile Hänge. Dafür bargen die sauerländischen Höhen umfangreiche Lagerstätten an Eisenerz. Und Eisen war im Mittelalter ein weit kostbareres Handelsgut als es heute ist. Dieses Eisen wurde an Ort und Stelle in sogenannten Rennöfen verhüttet. Im märkischen Sauerland sind 1500 dieser tönernen fen nachgewiesen. Und in den Tälern wurde das Eisen sodann zu Stangen geschmiedet und dünn ausgehämmert. So bildete es das Rohmaterial für die Drahtrollen, wie die Fachwerk-Kotten genannt wurden, in denen der Draht gezogen wurde. Hatte der Draht das Hohleisen passiert, war er so hart, dass er bei einem erneuten Ziehvorgang gerissen wäre. Er mußte also wieder elastisch gemacht werden. Und das geschah durch Glühen über offenen Holzkohlenfeuern gleich hinter den Wohnhäusern – und hatte oft verheerende Folgen: Zwischen 1518 und 1702 erlebte Altena fünf große Stadtbrände. Allein beim letzten Brand fielen 200 Häuser und 35 Drahtziehereien in Schutt und Asche. Die offenen Glühöfen für Eisendraht wurden daraufhin verboten. Erlaubt waren fortan nur Kesselöfen.

Der Zunder,eine Schicht aus Eisenoxid, die sich beim Glühen auf der Drahtoberfläche bildet, muß weggebeizt werden, bevor der Draht gekälkt werden kann. An diesem Draht haftet dann später die nötigen Ziehfette, Seife zum Beispiel. Denn nur so behandelter Draht kann gezogen, kann bei jedem Ziehvorgang um etwa 25 Prozent verdünnt werden. Gebeizt wird heute mit Salzsäure. Und früher? Museumsführer Fritz Graue und Fritz-Uwe Finkernagel, Juniorchef einer Altenaer Drahtzieherei verraten es.

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Hauptaufgaben eines Drahtziehers sind heute Qualitätskontrolle und die Überwachung von oft drei Maschinen gleichzeitig. Vor zwanzig, dreissig Jahren, da forderte der Beruf des Drahtziehers noch den „ganzen Mann“. Wer nicht ordentlich viel Muskeln mitbrachte, war als „Zöger“ ungeeignet. Denn damals musste ein Drahtzieher noch eigenhändig bis zu 120 Kilo Draht an die Maschinen bringen. Heute hat er für die mittlerweile tonnenschweren Rollen Gabelstapler und hydraulische Hebebühnen, und auch die Wickelmaschinen arbeiten vollautomatisch. Der Pro-Kopf-Umsatz der Drahtziehereien mit mehr als zwanzig Beschäftigten lag von zwanzig Jahren noch bei 60 000 Mark. Heute liegt er bei 230 000 Mark. Auch das ein Zeichen dafür, dass umfassend rationalisiert worden ist.

Und der Umweltschutz? Dass die Lenne noch in den 50er Jahren ein toter Fluss war, lag zum grossen Teil an den Drahtziehereien im Nette- und im Rahmedetal. Denn die Säuren, mit denen von der Drahtoberfläche der Zunder weggebeizt wurde, schüttete man, wenn sie ihre Wirkungskraft verloren hatten, kurzerhand in die Bäche. Eine gelbliche Brühe, in der kein Fisch überleben konnte. Weil der Netterbach, der die Wasserräder antrieb, im Sommer austrocknete und im Winter vereiste, bauten die Drahtziehereien des Nettertales 1852 einen Sammelteich, in dem das Wasser nachts gestaut wurde. Auf diesem Gelände befindet sich heute eine Recyclinganlage des Industrieabwasserverbandes Altena, an dem 26 Firmen aus Altena, Nachrodt, Hemer und Lüdenscheid beteiligt sind. Kernstück dieser Neutralisationsanlage: Ein Ofen, in dem jährlich aus rund 10 000 Kubikmetern gesättigter Säuren reine Salzsäure zurückgewonnen wird und Eisenoxid als Abfallstoff ausfällt Doch gelegentlich gibt es noch „Ausrutscher“. Mitarbeiter des städtischen Tiefbauamtes untersuchen deshalb regelmäßig mit eigens dafür angeschafften Geräten den Säuregehalt des Baches.

Die Kunst des Drahtziehens an Auswärtige zu verraten, war den Altener „Zögern“, den Reidemeistern und ihren Knechten, in früheren Jahrhunderten bei Strafe verboten. Im Original erhalten ist noch eine Urkunde aus dem Jahre 1518. Darin räumt der Herzog Johann von Cleve der Freiheit Altena das Privileg ein, den dort ansässigen Drahtziehern, den sogenannten „Zögern“, den Umzug in eine andere Stadt zu verbieten. Ein Recht, das Altena die Vorherrschaft bei der Drahtproduktion sichern sollte und das erst 1732 durch den Preussenkönig Friedrich Wilhelm den Ersten aufgehoben wurde. Er ordnete an, dass Altena Drahtzieher auch „auf dem Platten Lande“ dulden müsse, also ausserhalb der Stadt.

Und das hiess dann Konkurrenzkampf. Innerhalb der Freiheit Altena hatte es den schon viel früher gegeben. Ebenso Überproduktion und Absatzkrise. 1686, vor 300 Jahren, legten die Altener deshalb zum ersten Mal ihren Draht „auf Stapel“, das heisst, sie gründeten eine Genossenschaft für Ankauf, Lager und und Verkauf des in Altena produzierten Drahtes. Die Gesellschaft, der „Drahtstapel“, die den Draht gegen Barzahlung zu festgesetzten Preisen kaufte, sollte durch ihre Lagerhaltung für eine künstliche Verknappung und damit zu einer Verteuerung des Drahtes sorgen. Eine Kartellgesellschaft, die nach heutigen Gesetzen nicht erlaubt wäre. Und die damals nicht lange Bestand hatte. Denn weil einige „Reidemeister“ – so hießen damals die selbständigen Drahtzieher – ihren Draht weiterhin selbst verkauften, ging der Konkurrenzkampf, der eigentlich hatte unterbunden werden sollen, munter weiter. Das änderte sich erst 1744 mit einer Genossenschaft, die sämtliche Altenaer Drahtzieher unter Vertrag hatte. Dieser „Stapel“ hatte achtzig Jahre lang Bestand. Doch zurück zum Jahr 1686. Nicht nur der erste „Drahtstapel“ wurde in diesem Jahr errichtet, sondern 1686 kam es auch zu einer ersten Übereinkunft zwischen den Draht-Kontrahenten Altena und Lüdenscheid, wer welchen Draht herstellen durfte und wer nicht. 1734 trat diesem Vertrag die Stadt Iserlohn bei, und fortan wurde in Lüdenscheid der dicke Draht gezogen, in Altena der mittlere und in Iserlohn der feine Draht.

Die Drahtzieher bewiesen damit schon recht früh kaufmännischen Weitblick, stärkte diese Absprache doch ihre Produktionskraft: Durch Rationalisierung konnten die Produktionskosten gesenkt und durch Spezialisierung die Qualität der Produkte gesteigert werden. Hinzu kam, dass die „Drahtstapel“, auch Iserlohn hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine solche Vertriebsgenossenschaft, für eine unternehmerfreundliche Preisbindung sorgten. Konkurrenzkampf und niedrigere, verbraucherfreundliche Preise gab es erst wieder, nachdem Napoleon 1809 in deutschen Landen die Gewerbefreiheit eingeführt hatte. 1823 wurde in Altena der letzte „Drahtstapel“ aufgelöst. Das historische Stapelhaus der Stadt wurde vor sechs Jahren abgerissen. Im Zuge einer „Stadtsanierung“.