Gewerkschaftliches Bewusstsein

1981: Über Jahrzehnte hinweg verhinderten Standesbewusstsein und „schriftstellerisches Ethos“ der Journalisten die Feststellung des Interessengegensatzes von Verlegern und Journalisten – von Arbeitgebern und Arbeitnehmern – durch einen Journalistenverband.

Der“Verband deutscher Journalisten- und Schriftstellervereine“, mit dem die Journalisten im Jahre 1894 auf die Gründung eines Zentralverbandes der Verleger reagierten, hatte es sich zwar zur Aufgabe gestellt, die rechtlichen und sozialen Grundlagen seiner Mitglieder zu verbessern; – angesichts des fortbestehenden Schriftsteller-Ethos erschien es jedoch absurd, eine so individuelle und von der Persönlichkeit abhängige Tätigkeit in ein Tarifschema pressen zu wollen. Und auch der als Gesamtvereinigung der Journalisten am 20. 11. 1910 gegründete Reichsverband der deutschen Presse, der die Einkommensverhältnisse der Journalisten regeln sollte, blieb unter gewerkschaftlichen Gesichtspunkten schwach. Dies nicht zuletzt deshalb, weil er von „publizistischen Persönlichkeiten“ (Chefredakteuren etc.) geführt wurde, die berufsständischen Ideologien verhaftet waren.

Folglich wurde in dieser Zeit an einen Streik mit dem Ziel weitgehenderer Verbesserungen der materiellen Lage der Journalisten, als die Verleger sie zugestehen wollten, nie ernsthaft gedacht. Die Standesideologie, für die Streik als Mittel zur Durchsetzung von Forderungen kaum vorstellbar war, behauptete sich in der Bundesrepublik Deutschland zunächst. So schrieb beispielsweise der Deutsche Journalisten-Verband erst im Jahre 1957 die prinzipielle Streikbereitschaft in seine Statuten und stellte erst 1978 ein „Berufsbild für Journalisten“ auf, das nicht mehr mit Begriffen wie „publizistische Persönlichkeit“ auf der Linie konservativer Publizistikwissenschaftler wie Emil Dovifat die These vom geborenen Journalisten aufrechterhielt, sondern statt dessen den Beruf des Journalisten realistischer und weniger pathetisch beschrieb. Damit hatte sich die Ansicht durchgesetzt, dass gesellschaftliche Widersprüche nicht auf Probleme des Individuums reduziert und der Arbeits- und Verwertungsprozess im Bereich der Massenmedien nicht verkürzt als individueller Schöpfungsprozess dargestellt werden könne.

Solange sich die Journalisten als „hochfliegende“ Publizisten gesehen hatten, war es ihnen gelungen, die Augen vor der Wirklichkeit des eigenen Berufes zu verschließen; hatten die Verleger trotz offensichtlich schlechter Arbeitsbedingungen kaum ein Aufbegehren von Seiten der Arbeitnehmer befürchten müssen. Dass sich mit berufsethischen Idealen ganzer Generationen von Journalisten die Realität des journalistischen Alltags nicht in Einklang bringen lässt, erkannten als erste fortschrittliche Kommunikationswissenschaftler aufgrund empirischer Untersuchungen, die in den 60er Jahren einsetzten. So Jürgen Prott („Bewusstsein von Journalisten, Standesdenken oder gewerkschaftliche Solidarität?“): „Ausgeschlossen von der Verfügungsgewalt über die publizistischen Produktionsmittel, damit zunehmend angewiesen auf den permanenten Verkauf der eigenen Arbeitskraft als Ware, sind die meisten Journalisten heute subsumiert unter das Kapital und unterscheiden sich insofern nicht von anderen lohnabhängigen Schichten.“

Auch der geistige Charakter journalistischer Arbeit vermag nach Prott nichts Grundsätzliches daran zu ändern, dass journalistische „Freiheit“ bei den Redakteuren immer den Zwang zur direkten Unterwerfung unter den ihn einstellenden Verleger einschließt. Entsprechend stellt Dieter Prokop fest, bezogen auf die Produktion der Ware „Nachricht/Zeitung“ sei ein scheinbar individueller Entscheidungsprozess des Journalisten der hierarchischen Befehlsstruktur untergeordnet, so dass wir es laut F. Ronneberger (in: Publizistik 1/71, S. 14) „bei der Masse der Redakteure keineswegs mit Kommentatoren und engagierten oder gar besessenen Meinungsführem zu tun haben, da ihr publizistisches Interesse nicht in Konflikt mit der sicheren ökonomischen Grundlage ihrer Zeitung geraten möchte“.

Zu einer Annäherung an diesen Standpunkt von Kommunikationswissenschaftlern und damit zur Abkehr von der Standesideologie entschlossen sich in den letzten zehn Jahren viele Journalisten (schweren Herzens?) unter dem „Eindruck wachsender Arbeitsplatzunsicherheit, radikaler Veränderungen traditioneller Tätigkeitsmerkmale und nicht zuletzt verschärfter Arbeitsbelastungen“ (Prott). In den Schwerpunkten gewerkschaftlicher Forderungen (z. B. Wegfall des Tendenzschutzparagraphen) spiegelt sich dieser Bewusstseinswandel wider. Noch während der Auseinandersetzungen um den neuen Manteltarifvertrag für Tageszeitungsredakteure im zweiten Halbjahr 1980 entwickelte bzw. verstärkte sich gewerkschaftliches Bewusstsein und solidarisches Verhalten aus dem Widerstand heraus, den die Verleger den berechtigten Forderungen der Journalisten entgegensetzten.

Die Folge war ein hoher Mobilisierungsgrad, zumal es Funktionsträger des DJV und der Landesverbände verstanden hatten, auf die Mitglieder, soweit sie noch gezaudert hatten, kritisch-aufklärend einzuwirken. In „normalen“ Zeiten ist dieser hohe Mobilisierungsgrad jedoch nicht zu halten. Ohne einen starken Durchsetzungswillen der einzelnen Journalisten ist deshalb mit einer möglichst buchstabengetreuen Umsetzung der erreichten MTV-Bestimmungen in die redaktionelle Praxis nicht zu rechnen. Für diese Umsetzung werden eher jene Kollegen eintreten, deren Arbeitnehmerbewusstsein ausgeprägt ist, als jene „Publizisten“, die sich schon in der Vergangenheit getreu ihrer berufsethischen Ideale mit jenen sozialen Leistungen begnügten, die ihnen die Verleger nahezu freiwillig zuerkannten.