Das Feigenblatt der Justiz

1981:  Der Beirat in Strafvollzugsanstalten – eine Art Feigenblatt? So krass hatte es die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen nicht formulieren wollen, als sie Anstaltsbeiräte zu einem Treffen einlud.

„Der steht kurz vorm Selbstmord“, hatten Insassen einer Justizvollzugsanstalt einen Vollzugsbeamten auf ihren Zellennachbarn aufmerksam gemacht. Doch dieser glaubte der Warnung erst, als er beim Öffnen der Zelle den Gefangenen am Fensterkreuz hängen sah. Erste Reaktion des Beamten: Er schloss die zwei neugierig neben ihm auf dem Gang stehenden Gefangenen in deren Zellen ein, holte dann einen Kollegen und nahm erst mit diesem zusammen die Leiche näher in Augenschein.

Kein Fall für die Öffentlichkeit? Das glaubte jedenfalls die Anstaltsleitung. Doch einige Gefangene dachten anders. „Hätte der Selbstmord nicht verhindert werden können, wenn der Beamte unseren Hinweis an Anstaltspsychologen oder Sozialarbeiter weitergegeben hätte? Und war der Mann überhaupt schon tot, als er entdeckt und noch einige Zeit am selbstgedrehten Strick hängen gelassen wurde?“

Das fragte sich, durch Häftlinge informiert, auch der Anstaltsbeirat. Das von ihm gegen den Beamten angestrengte Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, beweist jedoch grundsätzlich die Notwendigkeit einer Kontrollinstanz hinter Gefängnismauern.

Spektakuläre Fälle wie dieser sind selten. Und wo der Beirat nicht selbst um Kontakte zu den Gefangenen bemüht ist und sich auf regelmäßige Kaffee-Konferenzen mit der Anstaltsleitung beschränkt, erfährt er meist auch nur das, was ihm die Anstaltsleitung von sich aus mitteilen will. Der Beirat als Feigenblatt des Strafvollzugs? So krass hatte es die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen nicht formulieren wollen, als sie Anstaltsbeiräte zu einem Treffen einlud. Gerd Meyer vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche im Rheinland, der als Vorsitzender des Unteraussshusses „Straffälligenhilfe“ der Arbeitsgemeinschaft diese Tagung leitete, hatte sich vielmehr auf die Thematik“ Anstaltsbeirat – Erwartungen und Wirklichkeit“ beschränkt.

Von „Feigenblatt“ und „Alibifunktion“ war dann allerdings häufig die Rede. Das Treffen war das erste dieser Art. Die Vorbereitung erstreckte sich über zwei Jahre. Ein Termin musste gestrichen werden, weil sich von den im Bereich des Vollzugsamtes Köln angeschriebenen 88 Beiratsmitgliedern nur neun angemeldet hatten.

Ein Blick in die Geschichte: Ihren Ursprung haben Anstaltsbeiräte in England. Dort wurden sie im 18. Jahrhundert gebildet, um – der Satz könnte auch aus unseren Tagen stammen -„in der Öffentlichkeit Verständnis zu wecken für die Arbeit hinter den Mauern“.

1922 erst war Preußen soweit. Der Rückschlag kam 1934. Eine neue Strafvollzugsordnung räumt mit den Beiräten als „mit dem neuen Zeitgeist unvereinbar“ auf. Erst mit Verabschiedung des Strafvollzugsgesetzes 1976 werden die Bundesländer wieder verpflichtet, Beiräte einzusetzen. In Nordrhein-Westfalen bilden sich daraufhin die ersten bei den Justizvollzugsanstalten Siegburg und Münster. Die Anlaufschwierigkeiten sind groß. Weil die Resonanz der Öffentlichkeit ausbleibt, müssen öffentliche Körperschaften wie Parteien, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ihre in die Beiräte zu entsendenden Vertreter häufig erst „ausgucken“. Landtagsabgeordnete, von der Justiz in den Beiräten gern gesehen, folgen dem Ruf zwar bereitwillig, lassen sich danach zu den Sitzungen der Beiräte jedoch nur selten blicken.

Ein Grund für das mangelnde Interesse: Das am 1. Januar 1977 in Kraft getretene Stratvollzugsgesetz, das in seinem Paragraphen 162 die Bildung der Beiräte verlangt, lässt offen, welche konkreten Aufgaben im Vordergrund stehen. Im Juni 1978 entwickelte der Fachverband „Straffälligenhilfe“ eine Konzeption für die Arbeit im Strafvollzug, in der die Aufgaben der Beiräte etwas detaillierter beschrieben werden: „Die Beiräte wirken bei der Gestaltung des Vollzuges und bei der Betreuung der Gefangenen mit. Sie unterstützen den Anstaltsleiter durch Anregungen und Verbesserungsvorschläge bei der Eingliederung und helfen bei der Eingliederung nach der Entlassung.“ Aber auch diese Beschreibung entspricht nicht ganz der Wirklichkeit. Denn da noch viele Mitglieder von Beiräten Wert darauf legen, dass den Gefangenen ihre Privatanschriften unbekannt bleiben („Damit die uns eines Tages nicht auf die Bude rücken“), ist „Hilfe bei Eingliederung nach der Entlassung“ nur schwer vorstellbar.

Hier geben die ehrenamtlichen Helfer im Strafvollzug den Beiräten ein gutes Beispiel. Aus dem Konzept des diakonischen Werks: „Durch persönliches Engagement und sachliche Information müssen in der Öffentlichkeit Vorurteile und falsche Vorstellungen über Straffällige und Straffälligkeit korrigiert werden!“ Ziel ist es, diakonische Aktivitäten stärker in den Vollzug zu verlagern, um dessen negativen Auswirkungen entgegenzusteuern“.

Dass das Klima in den Vollzugsanstalten immer resozialisierungsfeindlicher wird, hat Gründe, die im Strafvollzug selbst und nicht bei den ehrenamtlichen Kräften zu suchen sind. Ein Grund ist das starke Sicherheitsbedürfnis gegenüber politisch motivierten Straftätern. So wurden zum Beipiel zur Justizvollzugsanstalt Köln zur Bewachung von dort einsitzenden Terroristen 70 Beamte aus anderen Anstalten abkommandiert mit dem Ergebnis, dass die wenigen dort verbliebenen Beamten um Sicherheit und Ordnung fürchten.

Auf derartige Missstände hinzuweisen, fällt den freien Verbänden leichter als den Anstaltsbeiräten. Denn in einem Erlass des nordrhein-westfälischen Justizministers heißt es: „Die Bestellung als Beiratsmitglied kann aus wichtigem Grund zurückgenommen werden.“ Auch Machtmittel besitzt ein Beirat nicht. Zwar darf er seine Anregungen alljährlich in einem Bericht (über die Vollzugsämter und mit deren Stellungnahme verbunden) dem Justizminister übermitteln. Entscheidungen kann er jedoch nicht fällen. Und das Echo auf diese Berichte ist vielfach schwach.

Dieses „Der Beirat wird gehört…“, die Berufung durch den Vollzugsapparat selbst und die fehlende Rückkoppelung zu den politischen Volksvertretern lähmen die Beiräte. Verordnungen, die sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit einschränken, wecken die Angst, sich möglicherweise die Arbeitsgrundlage in der Anstalt zu entziehen. „Den Anstalten kann das nur recht sein“, sagt ein Tagungsteilnehmer. „Denn die Anstaltsleitungen, denen die Beiräte übergestülpt worden sind, fürchten eine größere Transparenz des Vollzuges. Das hieße nämlich Schwächen aufzeigen.

So beschränken sich denn derzeit die meisten Anstaltsbeiräte auf die Betreuung der Gefangenen in Einzelfällen, statt global am Vollzug mitzuwirken. „Unsere einzige Funktion ist die Alibifunktion“, war denn auch das kritische Fazit der Dortmunder Tagung. Sie endete mit dem Wunsch nach einem klar umrissenen Auftrag als Berater von Justizverwaltung und Parlament, mit der Forderung nach mehr Einflussmöglichkeiten und der Einrichtung von Beiräten bei der Mitteln und Oberinstanz. Erst dann könne die Arbeit der Beiräte intensiver, umfassender und wirkungsvoller werden. Bis dahin bleibe es bei der Feigenblatt-Funktion.