Abenteuer Auvergne

1979:  Als unsere Freunde erfuhren, das wir fünf Wochen Wohnmobil-Ferien in Frankreich vor uns hätten, verdrehten sie die Augen: „Ah, Wein, Käse, Leben wie Gott in Frankreich!“ Doch als sie hörten, es solle in die Auvergne gehen, wussten sie bestenfalls, dass „Asterix“ und „Obelix“ auf einer ihrer abenteuerlichen Reisen den Auvergner Schinken schätzen gelernt hatten; ansonsten musste jedoch zuerst der Atlas zu Rate gezogen werden.

Nicht von ungefähr steht in einem deutschen Reiseführer „Die Auvergne zählt nicht zu den touristischen Schwerpunkten Frankreichs. Das gilt insbesondere dann, wenn sie nach der Zahl der ausländischen Touristen gewertet werden!“ Und auch ein Blick in den DDC-Campingführer Europa“ wirkte nicht gerade ermutigend: Die dort für die Auvergne aufgeführten Campingplätze lassen sich an einer Hand abzählen. Hilfreich bei den Reisevorbereitungen waren daher die Informationen des französischen Verkehrsbüros in Frankfurt, waren die Michelin-Touristikkarten Nr. 76 (Süd) und 73 (Nord), die die gesamte Auvergne abdecken, waren die beim Fremdenverkehrsamt in Clermont-Ferrand angeforderten Prospekte. Wir wussten daher schon vor unserer Abreise, dass wir – entgegen den „weißen Flecken“ im DDC-Campingführer – die Wahl zwischen 250 Campingplätzen haben würden. Eine beruhigende Aussicht. Und vielversprechend war auch jener Satz: „Die Auvergne, Mittelpunkt des noch wenig bekannten Zentralmassivs, ist mit mehr als 26.700 Quadratkilometern größer als das Bundesland Hessen!“ Fünf Wochen waren also durchaus Zeit genug, um ins Detail zu gehen, anstatt „die Auvergne in drei Tagen zu machen“ – wie jenes junge Paar mit Passat und Wohnwagen, das wir später in Clermond-Ferrand trafen. Was an diesen beiden Landsleuten auf dem Weg an die Atlantikküste „vorbeihuschte“, wird selbst in den Reiseführern als eine der schönsten Landschaften Frankreichs beschrieben, besonders reizvoll für jene Großstadt-Gestressten, die in Ferien hauptsächlich einfaches Leben und Erholung in der Natur sehen. Beides bietet die Auvergne in den vier Departements Allier, Cantal, Haute-Loire und Puy-de-Döme in reichem Maße. Das Einzigartige an ihr sind neben den mehr als dreißig Seen, unzähligen Flüssen und Bächen die Vulkane des „Parc Naturel Regional des Volcans d‘ Auvergne“, der 315.000 Hektar groß, von Nord nach Süd auf 120 Kilometern die drei Gebirgsmassive Monts Dömes, Monts Dore und Monts du Cantal umfasst.

Der Empfehlung des Reiseführers folgend wählten wir für die Anreise die Route über die Autobahn Basel/Mulhouse/Besancon, die Nationalstraßen 83/73/5 nach Dijon und von dort wieder über die Autobahn bis Lyon/St. Etienne – bequem in zwei Tagen zu schaffen für diejenigen, die dem Elsässer Wein keinen Zwischenaufenthalt einräumen wollen. Erster Campingplatz im Zielgebiet: Monistrol sur Loire. Von dort aus führt uns die D 46 am nächsten Tage auf 55 Kilometern meist im (teilweise schluchtenartigen) Tal der Loire nach Le Puy, Hauptstadt des Departements Puy-de-Döme. Im 14. Jahrhundert sollen 70.000 Klöpplerinnen den größten Handwerkszweig der Bischofsstadt gebildet haben. Heute hat die Industrie die Herstellung von Spitzendecken übernommen, erinnern in den Antiquitätenläden der Altstadt am Fuße der Kathedrale nur noch alte Utensilien der Klöpplerinnen (oder auf alt getrimmt?) an vergangene Zeiten, während sich in den Textil- und Souvenirläden ringsum die – vorwiegend – maschinell gefertigten Spitzen häufen.

Vorwiegend deshalb, weil es sie noch immer gibt, die Klöpplerinnen. In kleiner Zahl zwar, so dass sie den Touristen mit der Kamera magisch anziehen, wenn sie an einem warmen Sommerabend draußen vor der Haustüre sitzen, aber immerhin: Handarbeit ist auch (oder gerade?) im Industriezeitalter noch gefragt. (Uns blieb nur ein rascher Blick durch Butzenscheiben in ein Wohnzimmer, in dem eine Greisin mit einem kleinen Mädchen sprach, während ihre Finger jugendlich flink aus einem Gewirr von Garnen und Klöppeln ohne hinzusehen ein Spitzenmuster flochten.)

Neben mittelalterlicher Romantik im Detail hat Le Puy aber auch für den Durchreisenden etwas zu bieten: Eine malerische, von vulkanischen Überresten geprägte Lage. Da ist der Rocher Saint Michel, der nadelartige Schlot jenes Vulkans, der in Vorzeiten das gesamte Becken von Le Puy beherrscht haben muss. 281 Stufen führen hinauf zur Michaelskirche, die im 11. Jahrhundert auf der Spitze des Felsens errichtet wurde und die eine noch hundert Jahre ältere Kapelle umschließt. Eine prächtige Aussicht entschä-digt für die Mühe des Auf-stiegs.

Richtung Stadt erhebt sich -auch ein Teil des Vulkans Aiguilhe – das Gegenstück zu diesem Felsen, der Rocher CorneiIle, der von der 110.000 Kilogramm schweren Kollossalstatue Notre-Dame-de-France gekrönt wird, in deren Innern 91 Stufen bis hinauf ins Haupt der Madonnenfigur führen. Weit schweift der Blick über die Stadt mit ihren roten Ziegeldächern zum Rocher St. Joseph. Wieder ein Vulkanfelsen, diesmal gekrönt von einer Josef-Statue. Davor die burgartige Basilika aus dem Jahre 1913, jenseits des Flusses (nordwestlich der Stadt von der N 102 aus nach einem fünfzehnminütigen Fußweg zu erreichen) die ersten „Orgues“, die wir in der Auvergne sehen, wie Orgelpfeifen aufragende Basaltsäulen.

Auvergne_01Abends kurzer Spaziergang vom Campingplatz in die Stadt. Essen in einem Restaurant. „Lammkotelett mit … “ lässt sich mit Hilfe des Wörterbuches übersetzen. Das “ … “ sieht aus wie Pfeffer, entpuppt sich aber kurz darauf als Knoblauch, mit dem das Kotelett paniert wurde. (Der Geruch hängt noch am anderen Morgen in unserem Wohnmobil.)

An Schottland erinnert die Landschaft, die wir über Le Monastier bis Les Etables durchfahren. Runde Bergkuppen, grüne Wiesen, schmale Straßen. Und dann, mitten im Grünen, klettert plötzlich die Nadel des Temperaturanzeigers. Und sie bleibt auch kurz vor dem roten Bereich, nachdem Heizung und Ventilator eingeschaltet sind. In Les Etables – wir haben uns mühsam einen Weg durch den Straßenmarkt gebahnt und einen Abstellplatz oberhalb des Dorfes gefunden – stellt sich heraus: Die Wasserpumpe ist defekt; ein feiner Strahl heißen Wassers zischt heraus. Ein Glück, dass wir in der Nähe einer Reparaturwerkstatt stehen. „Drei Stunden“, sagt der Mechaniker. Und so spazieren wir denn in Richtung auf den Mont Mäzene, kommen jedoch nicht weiter als bis zu seinem Fuße: Blaubeerbüsche halten uns auf. Wir können in Blaubeeren schwelgen – ein Trost für die Autoreparatur.

Arlempdes, unser nächstes Ziel, auf der Michelin-Karte wie eine Großstadt eingezeichnet, ist in Wirklichkeit ein winziges Dorf, davor ein mittelalterlich wirkender Friedhof, dahinter eine Burgruine. Achtzig Meter hoch, an einer Stelle fast senkrecht, ragt aus dem Tal der Loire ein mächtiger Felsen empor. Auf ihm die Reste der Burg. Das Dorf? Eine Kirche, zwei kleine Hotels und eine Handvoll Häuser aus Bruchstein, von denen eines zu kaufen ist. Fischer mit langen Angelruten stehen in Gummistiefeln im Wasser der Loire, zuversichtlich, dass Lachs oder Forelle anbeißen werden. Wir dagegen müssen auf der Suche nach einem Lebensmittelladen weiterfahren.

Zusammen mit einem Campingplatz findet sich der Krämerladen erst in zehn Kilometer Entfernung, in Goudet. Hierher scheinen nicht oft Deutsche zu kommen. Die Frau auf dem kaum besetzten Campingplatz weist uns jedenfalls einen Platz im hintersten Teil des Geländes zu, der von den Toiletten und anderen Campern gleichermaßen weit entfernt ist. Als wir uns damit nicht einverstanden erklären, erhalten wir einen Platz direkt am Eingang. Dabei liegt zwischen beiden Plätzen eine freie Fläche, so groß wie zwei Fußballfelder.

Auvergne_02Sind die Auvergner gegenüber jedermann so rauh wie die Landschaft, in der sie leben? Oder sind speziell Deutsche hier nicht gern gesehen? Immerhin hatte im Zweiten Weltkrieg in der Auvergne die „Resistance“ viele Anhänger. Aber Vorsicht vor voreiliger Verallgemeinerung! Das erkennen wir schon am nächsten Tag in Saugues. Über den Lac du Bouchet, einen kreisrunden Kratersee ohne erkennbaren Zu- und Abfluss, aber mit klarem Wasser, und nach einer malerischen Fahrt durch die Schluchten der Allier, des mit 375 Kilometern längsten Flusses der Auvergne, hatten wir das kleine Städtchen Saugues erreicht. Dort lernten wir Hans kennen, Computerfachmann aus Frankfurt, unterwegs mit einem Uralt-VW und einem kleinen Hauszelt, und durch ihn eine Gruppe fröhlicher junger Franzosen aus Paris, die ihre Ferien in ihrem Heimatort verbrachten. Wir werden in die Gruppe aufgenommen, als ob wir Landsleute seien. Großes Gemeinschaftsessen im Nachbarort. Ein, zwei Aperitivs, Rotwein, Weißwein, Sekt, Tanz zu später Stunde, als außer der Gruppe kein anderer Gast mehr im Lokal ist. Braucht hier niemand auf den Franc zu achten? Die Urlauber aus Paris sind Arbeiter und kleinere Angestellte. Aber: „Wir haben nur einmal im Jahr Ferien, sei’s drum!“

Bei aller Urlaubslaune ist auch Platz für ernsthaftere Gespräche. So erfahren wir, dass die Auvergne aufgrund ihrer ungünstigen geographischen Verhältnisse zu den wirtschaftlich schwächsten Gegenden Frankreichs gehört. Und das Klima tut ein übriges: Starke Niederschläge in den höchsten Teilen des Massif Central mit plötzlich auftretenden Temperaturstürzen von zwanzig Grad und mehr während eines Tages, und in den Tälern Trockenheit. Da ist an Ackerbau kaum zu denken. Milchviehhaltung und Almbetrieb herrschen vor. Immer mehr Menschen zieht es in die großen Städte. Die jungen Pariser be-lagen es selbst. Aber: „Wo sollten wir hier unter all den Alten noch Arbeit finden?!“ Ein wenig Wehmut klingt mit; Bedauern, dass Traditionen verschwinden, kaum noch Trachten getragen werden und cabrette (Dudelsack) und vielle (Leier) nur noch selten zum bourrée, dem Volkstanz der Auvergne, aufspielen. Nur an Markttagen sei das gelegentlich noch anders, sagt einer der Gastgeber und schwärmt vom monatlichen Treffen der Viehhändler in Thoras, einem kleinen Flecken 25 Kilometer südlich von Saugues. Morgen sei es wieder soweit, doch wir müssten schon sehr früh da sein, um Typisches zu erleben.

Gesagt, getan. Um 5 Uhr wecken wir Hans, und eine halbe Stunde später tuckert sein VW in den jungen Morgen. Doch unser Gesprächspartner vom Vorabend muss in Weinlaune die Tage verwechselt haben. Denn in Thoras haben zu dieser frühen Morgenstunde die Hunde und Katzen die Wege noch für sich. Und ein Bauer, auf dem Weg vom Wohnhaus in den Stall, schüttelt verwundert den Kopf, als er den Wagen mit deutschem Kennzeichen sieht. Was uns denn hierhin verschlagen hätte, fragt er. Der Markt? Ja der sei doch erst morgen.

Was tun mit diesem angebrochenen Tag? Zurück nach Saugues, während die Sonne sich über die Baumwipfel erhebt, und weiter nach Monistrol d‘ Allier. Von dort aus soll, laut Reiseführer, eine schmale Straße oberhalb der Allier-Schluchten nach Norden führen. Eine kleine Rundreise bietet sich an. Und sie wird zu einem der schönsten Erlebnisse dieses Auvergne-Urlaubs. Strahlend blauer Himmel, eine frische, klare Luft, und im Tal dichter, wallender Nebel, dem gewundenen Lauf der Allier folgend und ihn so andeutend. Gelegentlich erreichen uns Nebelschwaden auf unserer Straße, wird das Licht der noch immer niedrig stehenden Sonne von Kiefern und Fichten strahlenförmig gebündelt, machen feinste Tautropfen die kunstvollen Miniaturen Hunderter von Spinngeweben zwischen den Blättern des Adlerfarns sichtbar, der am Wegrand steht. Eine Landschaft, wie sie um 1800 dem Maler Caspar David Friedrich als Modell für eines seiner romantischen Bilder hätte dienen können. Ein Glück, dass wir so früh aufgestanden sind!

Auvergne_03Noch unwirklicher die Landschaft, die uns am nächsten Tag erwartet. Über ein Hochplateau, bedeckt mit blühendem Heidekraut, und unter dem Viaduct de Garabit hindurch, jener in 123 Meter Höhe das Tal der Alleuze überspannenden Eisenbahnbrücke, die, 1884 erbaut, als die erste große Eisenkonstruktion Frankreichs gilt, haben wir den Grandval-Stausee erreicht. Immer wieder berührt unsere Straße eines seiner Seitentäler. Und weil der Wasserspiegel gesunken ist, ähneln einige davon einer Mondlandschaft. Kahle Baumstümpfe in Reihen, längst nicht mehr begangenen Wegen folgend, die zu Ruinen führen, werden sichtbar, das Holz im Laufe der Unterwasserjahre schwarz geworden. Steinige, kahle Abhänge, im Talgrund ein Bach. Frisches Gras sprießt zwischen dem Grau abgestorbener Wasserpflanzen hindurch. Und dies im Wechsel mit dichten Wäldern auf einer zweistündigen Fahrt, bei der wir kaum einen anderen Menschen sehen.

Da wirkt der Rheuma-Kurort Chaudes-Aigues,den wir schließlich erreichen, wie eine Metropole. Für Kurgäste und Touristen sorgt hier eine 82 Grad heiße Quelle. Ihr Wasser wird auch heute noch in rund 300 Häuser des Ortes geleitet – für Heizung und Küche.

Weiter auf kurvenreichen Straßen, auf denen Unübersichtlichkeit zum Hupen „vorsichtshalber“ rät, wo es auf jedes Straßenschild und jede Straßenziffer ankommt („Geht’s nun weiter auf der D 49 oder der D 123?“), um rich tig ans Ziel zu kommen. In unserem Fall in die Monts du Cantal: Einstieg in der Parc de Volcans. Über Mur-de-Barrez und Vics-Cère, wo wir erstmals nach vielen „weißen“ Straßen wieder auf eine rote“ Nationalstraße treffen, geht‘ s jedoch zunächst nach Super-Lioran. Eine Bergbahn erschließt von dem 1153 Meter hoch gelegenen Wintersportort aus den 1855 Meter hohen Plombs du Cantal, wo sich zwischen unzähligen vielfarbigen Pistenbeschilderungen (die im Sommer wie moderne Monumentalkunst wirken) Almvieh tummelt. Prächtig die Rundsicht von der Bergspitze, leicht der Fußweg zurück ins Tal; er ist der Rückfahrt mit der Bahn vorzuziehen.

Zwölf Kilometer nordöstlich liegt im Tal der Alagnon das Städtchen Murat, umgeben von Hügeln und Felsspitzen, die ihre vulkanische Herkunft nicht verleugnen können. Auch hier „Orgelpfeifen“, auch hier eine (diesmal vierzehn Meter) hohe Heiligenfigur. Der relativ teure,aber gute Campingplatzvon Murat findet sich jenseits der Bahnlinie. Wiesenhänge laden zu einer Picknick-Wanderung ein. Der Feldweg verliert sich im Unterholz eines Wäldchens. Wir klettern den Hang hinauf über Zäune, durch Hecken hindurch (Nur nicht den Picknickkorb verlieren) und sehen uns plötzlich einer Kuh „Auge in Auge“ gegenüber, die gerade gekalbt hat. Wackelig steht das noch nasse Kalb auf seinen Beinen, den Euter der Mutter hat es noch nicht gefunden. Auch scheinen die beiden Zweibeiner allzu interessant zu sein. Für die übrigenTiere der Herde nicht minder. Alle haben uns die Köpfe zugewandt. In der Stille dieses Sommnachmittages stellt sich ein seltsames Gefühl der Beklemmung ein. Hier stören wir eine Idylle. Also weiter! Aber wohin? Vor uns die Herde, hinter uns ein sumpfiger Wiesenhang. – Wir wählen d Sumpf …

Auvergne_0422 Kilometer von Murat entfernt liegt der Pas de Peyrol am Nordfuß des 1787 Meter hoh Puy Mary. Er entpuppt sich nach dreißigminütigem Aufstieg (Atempausen unvermeidlich) als der schönste Aussichtsberg der Monts du Cantal. Weit schweift der Blick zu den niedrigeren Bergen ringsherum und in die grünen Täler, die vom Puy Mary strahlenförmig ausgehen. Am Himmel kreist ein Bussard. Getreu unserem Reiseführer, der abendlicher Fahrt gen Westen einen reizvollen Sonnenuntergang versprochen hatte, folgen wir nach dem Abstieg der schmalen „Route des Cretes“ Die Straße verläuft größtenteils auf dem Grat eines Höhenzuges und lässt so Ausblicke die Täler zu beiden Seiten zu. Doch der „reizvolle Sonnenuntergang“ stellt sich nicht ein. Statt dessen ein Landregen, der erst aufhört, als wir Aurillac und den gepflegten Campingplatz L’Ombrade erreicht haben. Von dort aus sind es am anderen Tag nur zwanzig Minuten zu Fuß bis in die Innstadt. Alte Häuser an der Jordanne, wo bunte Wäsche im Wind flattert und sich Gänse und Schwäne im ruhigen Flusswasser spiegeln, laden zum Fotografieren ein. Grundkenntnisse in Geologie vermittelt die ständige Ausstellung „Volcans et Volcanisme“ „Chateau“ der Stadt.

Abstecher zur Talsperre St. Etienne-Cantales (der es gerade an Wasser mangelt), dann weiter nach Pleaux. Die Sommerfrische, auf einer Basaltebene gelegen, kann mit ihrem großen Campingplatz (Freibad nebenan) als Ausgangspunkt für kleine Abstecher zu den Talsperren der Maronne und Dordogne dienen, zu alten Landsitzen, romanischen Kirchen und zu Schlössern, die verwunschen wirken. Spätestens in Pleaux, wo sich abends auf dem Dorfplatz die Jugend zur „Disco“ unter freiem Himmel versammelt, hatten wir die Auvergne lieben gelernt. Wegen der Eindrücke, die die Natur hier einem Stadtmenschen vermittelt, aber auch wegen der Auvergner Käsespezialitäten Saint-Nectaire und Bleu d’Auvergne. Und schließlich wegen der Schnäpse und Liköre, des Verveigne (Eisenkraut), des Myrtille (Heidelbeergeist), des Prunelle (Schlehenlikör) und des Gentiane (Enzian), die alle wenigstens einmal probiert sein wollten

Nicht über den Luftkurort Mauriac, die westliche Pforte zum Parc de Volcans (Basilika aus dem 11. Jahrundert), sondern direkt über die D 680 erreichen wir Salers. Trutzig stellt sich die mittelalterliche Stadt dem Besucher nach einer Straßenbiegung in den Weg. Aus dunklem Lavagestein der Stadtwall, fast schwarz die Zinnen und Türme. Es sind diese schlanken Erkertürme, die Salers prägen. Es sind die engen Gassen dieses für deutsche Verhältnisse erst touristisch „angehauchten“ Städtchens (weit mehr Beschaulichkeit als in Rothenburg ob der Tauber), die Salers zu einer der schönsten Städte der Auvergne machen. Dort war es auch, wo wir nach vergeblicher Pilzsuche (wohlschmeckende Schirmpilze hatten wir in Unkenntnis für Knollenblätterpilze gehalten) einen pensionierten Lehrer trafen. Das Gespräch mit ihm auf einem Feldweg zwischen weiten Wiesen, das sich aus einem freundlichen „Bonjour“ entwickelte, mag nur fünf Minuten gedauert haben, war aber typisch für unsere flüchtigen Begegnungen mit Franzosen auf dieser Reise. Schon im zweiten Satz (wie später der Taxifahrer in Neuvic) berichtete der Lehrer, im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geraten zu sein. Da habe er es „relativ gut“~ gehabt. Die heutige Zeit mit ihrer „Verständigung zwischen den Völkern“, mit Jugendaustausch und Auslandsreisen wie der unsrigen („Gefällt Ihnen die Auvergne?“) seien jedoch besser. Sein Großvater sei 1870/71 Soldat gewesen, sein Vater 1914/18, und sein Sohn habe in Algerien gekämpft. Damit müsse nun Schluss sein. Nicht zuletzt deshalb sei er für ein vereintes Europa. Und zum Abschluss gibt er uns, der Nachkriegsgeneration, fast feierlich die Hand.

Auf die große „Schleife“ vom Puy Mary über Aurillac und Pleaux nach Salers folgt eine „Zickzack-Etappe“ durch das Falgoux-Tal nach Riom-es-Montagnes, wo wir an diesem Sonntag noch rechtzeitig ankommen, um die Bauern der Umgebung in ihren blauen Kitteln beim Viehhandel beobachten zu können, und weiter nach Bort les Orgues mit seinem 1.400 Hektar großen Stausee, vor allem aber mit den eindrucksvollsten „Orgelpfeifen“ dieser Reise. Mächtigen Steinsäulen, nur oben und unten mit einem Felshang verbunden. Die Gänge dazwischen ein fast höhlenartiges Labyrinth. Noch eindrucksvoller eine halbe Stunde später (der Ärger über eine Beule im Blech, die wir einer Kuh zu verdanken haben, die kurz einmal den Kopf schüttelte, als sie auf schmaler Straße an unserem Wohnmobil vorbeigetrieben wurde, ist noch nicht verflogen) der Blick vom Site de St. Nazaire auf die Mareges-Talsperre der Dordogne. Wälder bis zum Horizont, dazwischen als scharfer Einschnitt das Tal, in das kein Weg zu führen scheint. Weiter hinten auf einer Felsnase ein einsames Haus.

Auvergne_05Die Tagesreise endet – wir sind dem Zickzack-Kurs treu geblieben – am See von Neuvic. Der große Campingplatz direkt am Ufer wirkt, obwohl es erst Anfang September ist, wie ausgestorben. Jede Menge freie Standplätze zwischen Föhren. Der Waldboden ist noch feucht vom letzten Regen. Es riecht geradezu nach Pilzen.

Die Weiterfahrt zurück in den Parc des Volcans fällt auf einen Sonnentag mit unwahrscheinlicher Fernsicht. Schon hinter Ussel wirkt das Massiv des Puy de la Perdrix und Puy de Sancy (1885 Meter) zum Greifen nah. Dabei liegen noch 45 Kilometer dazwischen. Das altertümliche, touristisch schon etwas Überlaufene Städtchen Besse-en-Chaudesse nahe dem kreisrunden Lac Pavin (Bootsverleih) wird für uns zwei Tage lang zum Ausgangspunkt für Fahrten in die Umgebung: Nach Super-Besse mit seinen Hoteltürmen für Skifahrer. Von diesem Fremdkörper sonst ursprünglicher Herkunft führt eine Seilbahn hinauf zum Puy de la Perdrix. Und wer will, kann von dort hinüberwandern zum größeren Puy de Sancy, von wo ihn dann eine andere Seilbahn hinunter bringt ins Touristenzentrum Mont Dore. Wir aber wollten nicht und ziehen stattdessen eine Rundfahrt über die D 978, D 996 und D 5 nach Saint Nectaire (sehenswerte alte Pfarrkirche auf einem Hügel oberhalb des engen Tales) und Murol vor, wo eine mächtige Burgruine Schwindelfreie zum Ersteigen des Wehrganges einlädt (gegen Gebühr am Eingang, versteht sich).

Dafür kommen wir einen Tag später doch noch in den Ferienort Mont Dore am Fuße des Pic du Salncy, des mit 1886 Meter höchsten Gipfels Mittelfrankreichs. Casino, Hotel neben Hotel, Souvenirs, großer Markt, ein häßlicher Campingplatz am Rande der Stadt, auf dem es keinen einzigen ebenen Standplatz zu geben scheint – all dies fordert zur Weiterfahrt auf – abgesehen von der romantisch-alten Standseilbahn (Brombeerpflücken während der Fahrt erlaubt), die zu einem Ausflugslokal oberhalb der Stadt führt. Und so endet dieser Tag denn, wo er gar nicht enden sollte, auf einer zum Campingplatz gemachten Weide eines Bauernhofes in St. Sonnet, nördlich von Orcival. Der „Nachbar“, ein „eingebürgerter“ Italiener, der aussieht, wie sich ein Deutscher einen Südfranzosen vorstellt (dick, leicht kahlköpfig und behäbig) hilft beim Stromanschluss. Und am anderen Morgen wünscht er uns auf deutsch „gute Reise“, als wir Richtung Orcival aufbrechen, um uns die Kirche Notre-Dame anzusehen, die zu Recht als eine der schönsten Romantik-Werke der Auvergne gilt.

Auvergne_06Weiter fahren wir über Rochefort-Montagne, um auf der D 80 wieder zurück auf die Nationalstraße zu kommen, die uns zum Lac d’Aydat bringen soll. Kurz vor der Einmündung, fast am Ende eines kleinen Tales, erheben sich beiderseits der Straße dessen mächtige, jahrmillionen alte Wächter, der Roche Tuilière, (1296 m) und der Roche Sanadoire (1288 m). Große Geröllhalden zu ihren Füßen, zeigen beide Bergkegel weiter oberhalb ihr mal wellen-, mal säulenartiges Basalt-Gesicht. Der Campingplatz am buchtenreichen Lac d’Ayat ist eine gute Wahl: Viel Platz, und im Ort sind Tages-Angelkarten zu haben. Eine Seltenheit, da sonst die Jahreskarte der Union des Fédèrations Départementales de Peche et de Pisciculture (17 rue Bergére, 75009 Paris) verlangt wird. Also nichts wie raus mit der Angelausrüstung (wobei sich in dem ausrangierten Fotokoffer eine kleine Plastiktüte mit einer gelblichen, halb flüssigen Masse findet, der beim Öffnen ein penetranter Gestank entweicht – sollte das der Angelköder vom letzten Jahr gewesen sein, der Tintenfisch von der Adria?! – Nichts wie wegdamit!!) Beim anschließenden Fliegenfischen springen die Forellen munter um den Köder herum, ohne Appetit zu zeigen.

Kaum eine Stunde Fahrtzeit liegen zwischen dem Lac d’Ayat und Clermont-Ferrand, doch welch ein Unterschied! Hier die Natur in Hülle und Fülle, dort das mit den Michelin-Reifenwerken groß gewordene Wirtschaftszentrum der Auvergne. Ampeln, Hektik, Großstadtverkehr. Aber auch Clermont-Ferrand hat seine Reize. Etwa nach „atemberaubenden“ Wendeltreppenaufstieg zum Firstausguck der gotischen Cathedrale Notre Dame aus dem 13. Jahrhundert: Beschaulich wirkt das Meer roter Ziegel, die Altstadt. Oder die Grottes du Pérou: Mineralquellen, deren Wasser über Holztreppen geleitet wird. Darauf abgestellte Gegenstände erhalten in zwei und mehr Monaten (je nach Größe) einen glänzenden Kalksteinüberzug. Hund, Lamm, Katze und Reh, heute Blickfang im Garten vor den Grotten, kamen ebenfalls ausgestopft unter die „Dusche“. Es brauchte Jahre, um ihnen ihren Kalküberzug zu geben.

Der „Hausberg“ Clermond-Ferrands und gleichzeitig ob seiner grandiosen Rundumsicht auf kleinere Krater und Vulkanberge wohl interessanteste Ausflugsziel dieses Teils des Parc des Volcans ist der Puy de Dome. 1456 Meter hoch, beherrscht er die gesamte Region. Fünfzehn Kilometer von Clermond-Ferrand entfernt beginnt eine sechs Kilometer lange Mautstraße, die bis knapp unter die von einer Fernsehstation gekrönten Bergspitze führt, davon auf vier Kilometern mit einer Steigung von zwölf Prozent

„Das Massif Central gilt als eines der geologisch besonders interessanten Gebiete der Erde“, hatten wir in unserem Reiseführer gelesen. Und der Blick vom Puy de Dome auf die nach ihm benannte Kette von rund sechzig erloschenen Vulkane bestätigt das. An einem davon, der sich gerade 200 Meter über das 900 bis 1000 Meter hohe Plateau erhebt, üben Drachenflieger. Die beiden, die am frühen Nachmittag ihre Gestelle auf dem Puy de Dome zusammenbauen, um dann nahe einem Steilhang unterhalb des Fernsehturms zu einem Gleitflug zu starten, der erst hinter der Talstation der Mautstraße endet, müssen schon Profis sein. Reinhard Meys „Über den Wolken“ fällt ein, während die Drachenflieger sich spiralförmig der Erde nähern, die Silhouette von Clermont-Ferrand mit ihren von der Sonne beschienenen Hochhäusern vor sich und die im Dunst kupferfarben verschwimmenden Vulkankegel der Monts Domes hinter sich.

„Vielen Sehenswürdigkeiten der Auvergne verleiht Bescheidenheit ihren besonderen Reiz“, hatte unser Reiseführer festgestellt. Und tatsächlich können Burgen und Städte in dieser vielfach noch unberührt wirkenden, in ihren Vulkanursprüngen grandiosen Natur auch gar nicht anders erscheinen. Fragte uns am Ende unserer Reise in Pontingand in einem kleinen Restaurant, wo wir Wein, Salate, Melone, Omelette, Kotelett mit Kartoffeln und Chicoree und danach noch einen Eisbecher genossen und dafür nur 22 Franc bezahlt hatten (Wer sagt da, leben wie Gott in Frankreich hieße teuer leben?) der Wirt: „Wie hat es Ihnen in der Auvergne gefallen?“ – Unsere Antwort fiel kurz aus, weil wir nicht wussten, wie wir all das in Französisch kleiden hätten sollen, was uns in den zurückliegenden Wochen alles gefesselt hatte: „Wir kommen wieder!“ Und wenn die „weißen Flecke“ im Campingführer bis dahin blieben, hätten wir gar nichts dagegen.