Stockholm, die schwimmende Stadt

August 1977:  Wer kennt nicht aus Kindertagen ihre Geschichte vom Däumling Nils, der sein Heimatland Schweden vom Rücken des Gänserichs Martin aus erlebt? Es war diese „Wunderbare Reise“ – als Kind verschlungen und jetzt, als Erwachsener, durch Zufall wieder in die Hand bekommen -, die zu diesem Abstecher nach Marbacka geführt hat. Ein großer Abstecher. Denn Ziel der Reise ist Schwedens Hauptstadt Stockholm.

Auf der ausgestopften Wildgans in der Diele des stattlichen Holzhauses in der Provinz Värmland in Mittelschweden liegt Staub. Die trüb-gläsernen Augen des Tieres sind zur Türe hin gerichtet, durch die in den Sommermonaten täglich Hunderte von Besuchern strömen. Doch es scheint, als blicke die Wildgans durch sie hindurch, als träume sie von grünen Wäldern, klaren Bächen, kleinen Flüssen, einer Hügel- und niederen Berglandschaft, wie sie die frühere Besitzerin dieses Hauses den kleinen Nils Holgersson auf seiner Reise mit den Wildgänsen hatte kennen- und lieben lernen lassen.

Stockholm_01Wir sind auf Marbacka – ursprünglich eine Sennhütte, dann ein Bauernhof, um 1800 eine bescheidene Pfarrstelle, heute ein großes Gut und ein Museum zugleich. Denn auf Marbacka wurde am 20. November 1858 Selma Lagerlöf geboren. Und dort starb sie am 16 März 1940. Wer kennt nicht aus Kindertagen ihre Geschichte vom Däumling Nils, der sein Heimatland Schweden vom Rücken des Gänserichs Martin aus erlebt?
Es war diese „Wunderbare Reise“ – als Kind verschlungen und jetzt, als Erwachsener, durch Zufall wieder in die Hand bekommen -, die zu diesem Abstecher nach Marbacka geführt hat. Ein großer Abstecher. Denn Ziel der Reise ist Schwedens Hauptstadt Stockholm.
„Wohin der Junge schaute, überall sah er Dächer und Türme aus dem Nebelmeer auftauchen; die \A/ildgänse flogen offenbar über eine große Stadt hin … ‚Ich weiß nicht, wie sie bei den Menschen genannt wird‘, sagte Daunenfein. ‚Wir Graugänse nennen sie nur die schwimmende Stadt!'“
Auf Marbacka finden sich diese Sätze über Stockholm in vielen Sprachen. Denn in der großen Bibliothek fehlt keine der Übersetzungen von Selma Lagerlöfs Werken. Das Anwesen solle als Familien- und Gedächtnishof, als ungeteiltes und selbständiges Gut erhalten bleiben, hatte Selma Lagerlöf in ihrem Testament verfügt. Dafür sorgt heute eine Stiftung mit Vertretern der Familie und der Provinz in denn Vorstand, der das Gut mit seinen 75 Hektar Ackerböden und 100 Hektar großen Wäldern verwaltet,.
Das ursprünglich einstöckige, niedrige, rot gestrichene Wohnhaus, um 1800 von einem Vikar erbaut, war durch Heirat in den Besitz der Lagerlöfs gekommen, 1885 mit dem Tode des Vaters der Dichterin jedoch wieder verloren gegangen. Drei Jahre zuvor hatte Selma Lagerlöf den Hof verlassen, um in Stockholm Lehrerin zu werden. Als der Vater starb, arbeitete sie bereits an einer Mädchenschule in Landskrona (sie blieb dort als Lehrerin zehn Jahre lang). Erst der Erfolg ihrer Bücher ermöglichte es der Dichterin im Jahre 1907, Marbacka zurückzukaufen. Zwei Jahre später wurde der Hof ihre Sommerwohnung. Der Ausbau zu einem schwedischen Herrensitz, wie er im 18. Jahrhundert typisch gewesen wäre, folgte zwischen 1921 und 1923.

Stockholm_02Seitdem hat sich in den Wohnräumen nicht viel geändert, abgesehen von den vielen Besuchergruppen, auf die im „großen Salon“ die kopierten Portraits von Vorfahren der Dichterin stumm herabblicken. Und auch Pfauen, von Selma Lagerlöf erstmals 1912 gekauft, werden noch heute auf Marbacka gehalten. Vor ihrem Gehege in der Nähe des früheren Kramladens mit Poststelle, wo heute Andenken verkauft werden, drängen sich die Kinder.
Seit der Öffnung des Gutes für die Allgemeinheit im Jahre 1942 kamen mehr als 1,5 Millionen Menschen nach Marbacka. Für die einen ist der kleine, abgelegene Ort eine Reisestation wie viele, für die anderen vielleicht der Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Dichtung jener Offizierstochter, die sich Stoffen aus heimatlichen Sagen und Märchen verschrieben und für Bücher wie „Gösta Berlings Sage“ und die „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ im Jahre 1909 den Nobelpreis für Literatur bekommen hatte.
Auch über das Königliche Schloss in Stockholm waren Nils Holgerssons Wildgänse geflogen, erdacht von dieser Frau, aus deren Texten eine große Heimatliebe spricht. Stockholm war für Selma Lagerlöf wegen seiner unzähligen Inseln – natürlichen Barrieren zwischen dem Süßwasser des großen Mälarsees und dem Salzwasser der Ostsee – „die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt“. Auf ihrem Flug gen Norden über Landstriche „so voller Seen, dass sich das Land wie kleine spitze Hügelketten hinzieht“, hatten die Wildgänse Stockholm im nebeligen Frühjahr gesehen. Angereist auf der „Vogelfluglinie“ über Hamburg, Puttgarden, Rödby, Kopenhagen, Helsingör, Helsingborg und Linköping, lernen wir die Hauptstadt dieses mit 450 000 Quadratkilometern doppelt so großen Landes wie die Bundesrepublik nun im Juli kennen, zu einer Jahreszeit also, die auch in diesem Breitengrad Temperaturen von bis zu dreißig Grad verspricht.

Laut meteorlogischer Statistik ist der Juli für Stockholm mit 22 Grad am Tage und 13 Grad in der Nacht sowie nur neun Regentagen der wärmste und touristenfreundlichste Monat des Jahres. Und entsprechend wird im Juli das „Venedig des Nordens“, das sich dann lebensfroh und farbenfreudig mit dem gedämpften Flair einer Weltstadt umgibt, denn auch von Touristen beherrscht, während es die Einheimischen, soweit möglich, vorziehen, ihren Urlaub in ihren Holzhäusern auf den Schären zu verbringen (Von den 8,5 Millionen Schweden leben 1,4 Millionen in Groß-Stockholm, 700000 davon im eigentlichen Stockholm, verteilt auf 14 Inseln zwischen der Ostsee und dem Mälar-See, der doppelt so groß ist wie der Bodensee.)
Touristen,die mit Zelt, Wohnwagen oder Wohnmobil Stockholm ansteuern, haben die Wahl zwischen fünf Campingplätzen. Einen „Stern“ weisen die Anlagen in Farstanäs, Flatens und Rösjön auf, zwei „Sterne“ der Platz Ängby in Bromma und drei „Sötra Camping“ im Stadtteil Skärholmen. Für alle fünf gilt jedoch das Zitat aus einer Broschüre des schwedischen Fremdenverkehrsbüros: „Auf den Campingplätzen kann es im Juli zu Engpässen kommen. Also vorbestellen!“

Wie sollte es anders sein: „Sötra Camping“, von uns als Stockholmer Standquartier auf dieser Juli-Reise ausgewählt, ist überfüllt. „Auf den anderen Plätzen sieht es nicht anders aus,“ lautet die Auskunft an der Rezeption, Was tun? Auf einem Schotterplatz, der direkt an „Sötra Camping“ grenzt, stehen bereits einige Wohnmobile. Da wird es auf ein weiteres wohl nicht ankommen. Und der morgendliche Gang zur „Waldtoilette“ wäre auch nicht der erste. Zwar findet sich am zweiten Tag ein Zettel an der Windschutzscheibe: „Hier ist Campingverbot“. Es muss sich dabei aber wohl um einen Warnschuß ohne Rechtsgrundlage gehandelt haben, denn am Abend des gleichen Tages wenden gleich viermal Streifenwagen der Polizei auf dem Platz, ohne dass einer der mehr als zwanzig Wohnmobil- und Gespannfahrer, die mittlerweile hierhin ausgewichen sind, zur Weiterfahrt aufgefordert wird.
Am nächsten Tag wird auf dem Campingplatz ein Standplatz frei. Und dort bleibt das Wohnmobil auch immer dann, wenn wir auf Entdeckungsreise gehen. Denn weil Parkplätze in der Stockholmer Innenstadt – wie anderswo auch – Mangelware sind, sollten motorisierte Touristen die öffentlichen Verkehrsmittel dem eigenen fahrbaren Untersatz vorziehen. Ein Zwei-Tages-Ticket für Busse, U-Bahn (tunelbana)und die Djurgarden-Fähren gibt es für wenig Geld in der Fußgängerunterführung am Hauptbahnhof zu kaufen. Dieses Ticket ermöglicht nicht nur unbegrenztes Fahren mit den genannten Verkehrsmitteln (sie verkehren nur drei Stunden in der Nacht, vor 2 bis 5 Uhr, zwischen der Vororten und der Innenstadt nicht), sondern gewährt auch freien Eintritt zum Freizeitzentrum Skansen, Kaknäs-Turm und Rummelplatz „Gröna Lund“.
Der „Kaknästornet“ ist mit 155 Metern das höchste Bauwerk in ganz Skandinavien, Die für die Besucher des Fernsehturms zugänglichen Stockwerke in luftiger Höhe vor 130 Metern mit Restaurant und Imbiss können 400 Personen Platz bieten. Ein Besuch lohnt sich wegen des weiten Blickes über die Stadt ,wobei die auf der Aussichtsplattform angebrachten Orientierungstafeln und Panoramapläne hilfreich sind. Von dem im Mai 1967 eröffneter Turm ist es mit dem Bus (einmal umsteigen in die Linie 44 oder 47 nicht weit zur Insel Djurgarden mit ihren Museen, dem Wasa-Schiff und „Skansen“.
Wie heißt es dazu in Selma Lagerlöfs „Wunderbarer Reise“? – „Der Junge .. sah wohl ein, dass in diesem Freiluftmuseum außerordentlich viel Interessantes und Lehrreiches zu sehen war, und es wurde ihm nicht schwer, sich die Zeit zu vertreiben“

Tatsächlich entspricht Skansen jenem Bild vor Schweden, das Selma Lagerlöf in ihren Büchern zeichnet. Denn in Skansen finden sich neben einem Zoo und einem Aquarium sowie botanischen Gärten 150 historische Bauten, Bauernhöfe und Stadthäuser aus allen Teilen des Landes, die verschiedene Zeiten und Gesellschaftsschichten repräsentieren. Geöffnet ist der Freizeitpark täglich zwischen 8 und 23.30 Uhr. Und das seit 1891, als er von Artur Hazelius gegründet wurde mit dem Ziel, das Volksleben in lebendigen Zügen darzustellen.
Dies gelingt am besten in dem originalgetreu aufgebauten Stadtviertel, das mit seinen alten Handwerksstätten die Hauptattraktion von Skansen ist. Denn während des Sommers sind viele dieser Handwerksbetriebe „in Aktion“. Da lassen sich Glasbläser von interessierter Besuchern ebenso über die Schulter blicken wie Buchdrucker, Dreher, Bäcker oder Weber, Da wird Butter erzeugt, Käse hergestellt und Kornflechter lassen „die Finger fliegen“.
„Skansen“, das heißt aber auch Folklore-Veranstaltungen, Freilichtbühne, Bimmelbahn, Standseilbahn, Aussichtsturm, Kirmes, Cafés und Restaurants (wo es passieren kann, dass an den Tischen im Freien Möwen in jähem Sturzflug die Essensreste von den Tellern holen).
Nicht weit vom Haupteingang zu Skansen entfernt liegt – um bei einem Schiff im Bild zu bleiben – die Wasa „vor Anker“. Das königliche Kriegsschiff, 1628 bei seiner Jungfernfahrt wegen seines zu schweren Aufbaus und eines zu hohen Schwerpunktes mit Mann und Maus gesunken, war 1961 gehoben worden. Seitdem kann es in einer Halle besichtigt werden. Sie wurde rund um den Schiffskörper gebaut, um ihn vor dem Verfall zu retten. Ständig herrscht in dem Gebäude eine Luftfeuchtigkeit von 70 Grad, damit das Holz nicht verrottet. (Erst in einigen Jahren kann, wenn das aufgetragene Konservierungsmittel tiefer in das Holz eingezogen ist, die Luftfeuchtigkeit reduziert werden.)

Doch zurück per Schiff nach Nybroplan. Von dort ist es nicht weit durch den Kungsträdgarden, den Königsgarten, eine großzügige Parkanlage, nach Norrmalm, der Neustadt von Stockholm. Inmitten von Betonblocks, Banken, Geschäften und Vergnügungsstätten findet sich das Schild „husmanskost“ dort nur noch selten; dafür gibt es um so mehr Hamburger-Restaurants und Pizzerias. Und auch das Smörgasbord, aus bis zu hundert verschiedenen Gerichten bestehend, sollte man besser auf einer der Ostseefähren probieren. Dort ist es preiswerter als beispielsweise im „Opern-Restaurant“.
Auch zum Kauf von Reiseandenken ist Norrmalm nicht der richtige Platz. Wie wär’s mit Holzschnitzereien, Gläsern, Keramiken, einer Trachtengruppe oder einem roten Holzpferd aus der Provinz Dalarna? Dies und vieles mehr findet sich in Gamla Stan. Die Altstadt Stockholms mit ihren idyllischen, kopfsteingepflasterten Gässchen heißt auch „Staden Mellan Broarna“, die Stadt zwischen den Brücken. Wo vor 700 Jahren die ersten Häuser Stockholms entstanden – der Gasthof „Goldener Friede“ wurde 1721 errichtet – führen noch heute viele Gassen deutsche Namen, letzte Erinnerung an die Niederlassungen der Deutschen Hanse, die damals in Stockholm sehr zahlreich waren.

Alte Gebäude, darunter das Ritterhaus mit den Wappenschildern des schwedischen Adels, zeugen vom Reichtum dieser Zeit. Sie wirken dabei allerdings fast ebenso „nordisch kühl“ wie die zwanzigstöckigen Hochhäuser aus Stahl und Glas im Handelszentrum Hötorget.
Nur wenige Minuten Fußweg trennen die Altstadt von zwei weiter Hauptsehenswürdigkeiten, der Riddarholmskirche auf der gleichnamigen Insel, in der zahlreiche schwedische Könige ihre letzte Ruhestätte fanden, und – entgegen gesetzt – „kunglia Slottet“, das königliche Schloß. Der äußerlich klassizistische Bau, der sich im Innern im Gegensatz dazu verspielt französisch präsentiert, steht mit sein Kronjuwelen-Ausstellung Besuchern offen. Das schwedische Königspaar zeigt sich allerdings nur via Souvenirladen und Postkarte. Ersatz für Fotoamateure: Die mehr oder weniger zackige Wachablösung vor dem Schloss (jeden Tag um 12 Uhr, sonntags um Uhr).

Stockholm_03Wer dem Gedränge in der Altstadt Ruhe und Beschaulichkeit vorzieht, findet sie vor Stockholms „Haustür“, auf den Scharen. Die rund 24 000 bewaldeten bis kahlen Inseln mit ihren 30 000 Sommerhäusern und 60.000 Booten (entnommen einer halboffiziellen Statistik) erstrecken bis zu fünfzig Kilometer weit in die Ostsee hinein. Inseln wie Finnhamn, Husarö, Möja od Sandhamn werden täglich von Schiffen angefahren. Wer einen solchen Ausflug mitmachen möchte, muss jedoch früher aufstehen als sonst, die Anfahrt vom Campingplatz berücksichtigt. Denn alle Schiffe legen an den „Strömkajen“ morgens zwischen 8 und 9 Uhr ab. (Wer Glück hat, kann auf einer dieser Ausflüge in die Schärenwelt womöglich ein Rudel Rehe schwimen sehen – beim Übersetzen von Insel zu Insel.)
Ebenfalls ein Tagesausflug gilt der Insel Lidingö. Es ist wie bei Skansen ein Ausflug in die Vergangenheit zu gepflegten Eichenhainen ur alten Bauernhäusern, wobei das Museum des weltbekannten Bildhauers Carl Milles nicht ausgeklammert werden sollte.
Und dann natürlich Gripsholm, das Märchenschloss bei Mariefred, über das Kurt Tucholsky schrieb: „Das Schloss, aus roten Ziegeln erbaut, stand leuchtend da, seine runden Kuppeln knallten in den blauen Himmel – dieses Bauwerk war dick, eine bedächtige Festung“.
Die Gemäldesammlung, die das Schloss heut enthält, zählt zu den größten Europas. Für diejenigen, die, von Stockholm kommend, Mittelschweden und seine großen Seen ansteuern, liegt Schloss Gripsholm quasi am Weg. Und danach? Was erwartet die Tourristen dann? Etwa in der Provinz Bohuslän? Lassen wir Selma Lagerlöf sprechen: „Täler wie schmale, aus dem Gebirge herausgesprengte Schluchten, und die Seen darin, wie wenn sie aus der Tiefe der Erde aufgestiegen wären. Eine wirklich wunderschöne Landschaft“