Keine Hintergrundberichte mehr im Fernsehen der 90er Jahre

1989:  Wolfgang Clement stieß in Stenden mit seiner These auf Kritik

Einmal im Jahr, zur Spargelzeit, treffen sich gut 150 SPD-Landespolitiker, Journalisten, Wissenschaftler, Medienexperten und solche, die sich dafür halten, zu einem medienpolitischen „Klönschnack“ in der Heimvolkshochschule Stenden am Niederrhein. Und jedes Mal ist der Gastgeber Reinhard Grätz, Vorsitzender der SPD-Medienkommission NRW und des WDR-Rundfunkrates, um den Eindruck bemüht, als nehme die SPD im Lande Nordrhein-Westfalen die Anregungen aus den Stendener Arbeitskreisen begierig in ihre Medienpolitik auf. Teilnehmer der „Stendener Medientage“ hatten allerdings in der Vergangenheit wiederholt den Eindruck, diese Tagung sollte eher den Weg ebnen helfen für medienpolitische Vorhaben der Landesregierung, die längst beschlossene Sache waren. Wie auch immer – in Stenden wird einmal im Jahr über all das nachgedacht, was unter sozialdemokratischer Medienpolitik verstanden werden könnte. Und Nachdenken hat ja bekanntlich noch nie geschadet.

Es war auf den 10. Stendener Medientagen, am 23. März 1985, da sagte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau voraus, was vor ihm die Journalistengewerkschaften schon mehrfach gesagt hatten: In der Medienlandschaft der Zukunft würden die neuen publizistischen Latifundien von den „Umsatzmilliardären aus dem Bereich der Printmedien“ gebildet werden, „die schon jetzt ihre Meinung millionenfach verbreiten können“. Raus Erkenntnis aus multimedialer Vermarktung publizistischer Waren und medienübergreifenden Konzentrationsbewegungen: „Die Spirale aus wirtschaftlicher Macht und Meinungsmacht dreht sich weiter“.

Vier Jahre später, auf den 14. Stendener Medientagen, am 3. Juni 1989, erinnerte der Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, Staatssekretär Wolfgang Clement, an die damalige Einsicht Raus. Eine Einsicht, die, so der WDR-Pressechef Michael Schmidt-Ospach, „doch wohl nicht ohne Folgen für die praktische Politik bleiben kann“. Ungeachtet dieser Ermahnung beschränkte sich der Staatssekretär jedoch – wie bereits der Ministerpräsident 1985 – darauf, eine aus der Sicht der SPD-Landesregierung offenbar zwangsläufige Entwicklung der Medien in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus zu beschreiben.

Der WDR-Redakteur Klaus Bednarz (Monitor) und mit ihm auch andere Tagungsteilnehmer kritisierten dies später recht unverblümt: Clements Vortrag habe den „Gestaltungswillen der Politik“ vermissen lassen, sei von Resignation und Perspektivelosigkeit gekennzeichnet gewesen.

In den Mittelpunkt seines Vortrages hatte Wolfgang Clement seine „Konvergenztheorie“ gestellt, die Annahme, in ihren Programmfarben würden sich öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanstalten mehr und mehr annähern. Seine These: Da die Zahl der Hörfunk- und Fernsehprogramme insgesamt zunehme, erreiche die Werbung in den öffentlich-rechtlichen Programmen immer weniger Zuhörer und Zuschauer. Für die Privaten ergäben sich daraus in Anbetracht ihrer vergleichbar niedrigen Preise für Rundfunkwerbung („Tausenderkontaktpreis“) und der günstigeren Werberegelungen (Werbung auch nach 20 Uhr möglich) strukturelle Wettbewerbsvorteile gegenüber den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Durch wachsende Werbeeinnahmen würden die Privaten zunehmend in die Lage versetzt, mit umfangreichen Eigenproduktionen alle Register der Fernsehunterhaltung zu ziehen (und diese Eigenproduktionen dann multimedial auszuwerten, d. h. auch im Kino, im Pay-TV und auf Video). Dagegen würden die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, so Clement weiter, in die Schere genommen von steigenden Kosten und stagnierenden bzw. rückläufigen Werbeeinnahmen.

Die Auswirkung dieser Entwicklung sei dann auf alle Programme die gleiche: „Beide Systeme sind … gezwungen, vor allem in den prime times massenattraktive, auf das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer und Zuhörer zugeschnittene Programme anzubieten; die öffentlich-rechtlichen Anstalten zur Legitimation der Rundfunkgebühren, die Privaten zur Maximierung von Werbeeinnahmen.‘

Für Wolfgang Clement sieht das Fernsehen der 90er Jahre dementsprechend so aus: Mehr Shows, Quiz- und Spielsendungen, Spielfilme, Sportübertragungen und Dauerserien, letztere standardisierte und konfektionierte Fließband-Produkte, die Produktionsverfahren so effizient gestaltet, dass pro Jahr Hunderte von Folgen einer einzigen Serie gesendet werden könnten.

Generell rechnet Clement mit kürzeren Sendungen und einer steigenden Zahl von Einzelbeiträgen, die sich als „abgeschlossene Unterhaltungspartikel“, als „Panoptikum unterhaltsamer Einzelereignisse“ konsumieren ließen. Dies gelte auch für die Darstellung politischer Zusammenhänge und Ereignisse. Im „bunten Kaleidoskop einer news-show“ werde dann auf komplexe und langwierige Hintergrundberichterstattung verzichtet, die politische Berichterstattung werde ausgedünnt.

Indem das Angebot an Medienunterhaltung inflationär zunehme, falle es den Zuhörern/ Zuschauern zunehmend leichter, den Informations- und Kultursendungen (Nach Ernst Albrecht dem „gesellschaftlichen Quark“) durch einen „Unterhaltungsslalom von Kanal zu Kanal“ (Clement) gezielt auszuweichen. „Kanaltreue“ werde es dann nicht mehr geben. Die Folge der zunehmenden Aufspaltung der Zuschauerschaft auf immer mehr Kanäle zum einen und des „Kanal-Slaloms“ auf der Suche nach Unterhaltung zum anderen: Das einzelne Fernsehprogramm werde weit weniger als heute zum innenpolitischen Meinungsbildungsprozess beitragen können.

Wie nun bewertete Clement diese Entwicklung? „Das Problem des Fernsehens ist nicht, dass es unterhaltende Themen präsentiert, sondern dass das Fernsehen alle Themen als Unterhaltung präsentiert“. Diese Aussage des amerikanischen Medienkritikers Neil Postman verkehrte der SPD-Staatssekretär und frühere Chefredakteur der „Hamburger Morgenpost“ ins Gegenteil: „Das Fernsehen kann im entwickelten dualen Rundfunksystem der 90er Jahre nur informieren, bilden und dokumentieren, indem es unterhält und amüsiert“.

Und die Politik? Sie werde sich auf die fernsehgerechte Inszenierung von politischen Ereignissen einstellen müssen. Beispielsweise werde „Telegenität“ (fernsehgerechte Mimik, Gestik, Ausstrahlung und Stilisierung) zu einer unverzichtbaren Qualifikationsanforderung des Politikers werden.

Kein Ton des Bedauerns: Die Präsentation politischer Informationen in Form eines unterhaltsamen Kaleidoskops entspricht für Clement „durchaus dem fernsehspezifischen Prinzip der Visualisierung und damit dem Charakter des Fernsehens als Bildmedium“. Denn: „Das Fernsehen ist weder ein bebilderter Brockhaus, noch eine moralische Anstalt“. Es gebe keinen Grund, hierüber die Nase zu rümpfen. Die Darstellung politischer Konflikte, Polemiken und Kontroversen passe einfach nicht in ein leicht bekömmliches und konsumierbares Unterhaltungsprogramm. Sicher, bei bestimmten Bevölkerungsgruppen könnten die neuen Programmangebote in Hörfunk und Fernsehen die bestehenden sozialen Zugangsbarrieren zur Nutzung von Printmedien oder zur Teilnahme an kulturellen Ereignissen noch zusätzlich erhöhen – ein neues soziales Problem. Doch mit einer drastischen und abrupten Veränderung im politischen Bewusstsein der Bürger hin zu entpolitisierten Unterhaltungssüchtigen und modernen Analphabeten rechne er nicht. Denn: „Das Fernsehen modelliert nicht die Gesellschaft, sondern ist ihr Spiegel“. Und: „Die Menschen sind nicht beliebig steuerbar. Sie haben Bedürfnisse, die nicht von Medien befriedigt oder aufgehoben werden können“.

„Die Leute sind gar nicht so dumm, wie wir sie durch‘ s Fernsehen noch machen werden.“

(Hans-Joachim Kulenkampff)

Was sollen nun die öffentlich-rechtlichen Anstalten tun, wenn sie angesichts der privaten Konkurrenz mit mehr Unterhaltung um Zuhörer und Zuschauer buhlen müssen, die Werbe-Einnahmen aber, aus denen diese Unterhaltungsprogramme zu finanzieren wären, hinter denen der Privaten zurückbleiben? Auf die „Bestands- und Entwicklungsgarantie“ pochen, die das Bundesverfassungsgesetz ihnen zugesichert hat? Auf die Einsicht der Politiker in den Landtagen, dass die Rundfunkgebühren beizeiten erhöht werden müssten? Wolfgang Clement hält das für den falschen Weg. Von den Gebührenentscheidungen der Landtage müsse sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk „aus eigener Kraft“ unabhängiger machen, indem er seine unternehmerischen Aktivitäten ausweite zum Beispiel durch die intensivere Verwertung seiner Eigen- und Auftragsproduktionen sowie die bessere Ausnutzung seiner Archiv-Kapazitäten. (Ergänzte der Vorsitzende des WDR-Rundfunkrates, Reinhard Grätz: Die Situation des WDR sei noch „rundherum stabil“. Bis Ende 1992 rechne der Sender allerdings mit einem Defizit von 180 Millionen Mark. Auch deshalb wünsche er sich „im Interesse der Gebührenzahler“ eine Bündelung der Kräfte von ARD und ZDF anstelle von „Konkurrenz um jeden Preis“.)

Aufhorchen ließ schließlich Clements Folgerung aus seiner „Konvergenztheorie“, aus der Tendenz zu standardisierten Unterhaltungsprogrammen in den Haupteinschaltzeiten: Bei der künftigen Deutung der Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werde der Begriff der gebührenfinanzierten „Grundversorgung“ zur Debatte stehen. Wurde hier vorsichtig die Gebührenfinanzierung des öffentlich rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik in Frage gestellt bei gleichzeitigem Verzicht auf die Kompetenz der Bundesländer für „ihren“ Rundfunk (Kulturhoheit)?

In der Diskussion, die auf Clements Vortrag folgte; bezeichnete es der WDR-Fernsehdirektor Günter Struve als falsch, würde der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf die Konkurrenz der privaten Programmanbieter vorwiegend mit deren Mitteln (Gewinnspiele) begegnen. Vielmehr sollte er neben seinem Angebot an Spielfilmen und Serien auch seine Informations-Angebote verstärken. Zu, den von Clement beschriebenen „news-shows“ stellte Struve fest, bei der Nachrichtenübermittlung im Fernsehen sei inzwischen bereits wieder die Tendenz zu weniger unterhaltsamen Formen der Information erkennbar. In einem Punkt aber gab Struve Clement recht: Ihre vorhandenen Produktionsreserven hätten die öffentlich-rechtlichen Anstalten längst noch nicht alle erschlossen.

Seine Distanzierung vom Begriff der „Grundversorgung‘ brachte Clement in der Diskussion den größten Widerspruch ein: Wer dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestimmte Aufgaben nicht länger zuweise, entziehe den Rundfunkgebühren die Legitimation. Und konkret an die Adresse der Politiker: In diesem Fall verabschiedeten sie sich nicht nur von ihren eigenen Ansprüchen, die sie bisher an einen der Gesellschaft verpflichteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk gestellt hätten, sondern auch von den „hohen Ansprüchen an die Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktionen“ (der Dortmunder Journalistik-Professor Ulrich Pätzold), die die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten laut Verfassung zu erfüllen hätten. Klaus Bednarz warf Clement vor, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nur nach Markt-Gesichtspunkten zu betrachten: „Wenn Sie ein öffentlich-rechtliches Programm à la RTL wollen, dann müssen Sie es auch sagen!“ Den Gefallen aber tat Clement seinen Kritikern nicht.