Politik für Unternehmer wie in der Weimarer Republik

1983:  Ein Vergleich der Politik Helmut Kohls mit einer Denkschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie aus dem Jahre 1929

Das Jahr 1982 wird möglicherweise als das Jahr der Pleiten in die Geschichte eingehen. Denn seit Bestehen der Bundesrepublik hat es in keinem Jahr so viele Firmenzusammenbrüche gegeben wie in diesem. Einmal abgesehen davon, dass die derzeitige Wirtschaftsflaute in der Bundesrepublik nicht hausgemacht ist, sondern der Situation auf dem Weltmarkt entspricht, war doch in vielen Fällen ein zu geringes Eigenkapital, eine zu hohe Verschuldung der Anfang vom Ende. Mit anderen Worten: Eine der Ursachen für das Firmensterben der jüngsten 5eit sind Fehler im Management.

Was im einzelnen, und speziell, was in welchem Maße zum derzeitigen Konjunkturtief beigetragen hat, beschäftigt Wissenschaftler wie Politiker. Und fast könnte man angesichts unterschiedlichster Stellungnahmen zu dem Schluss kommen, Firmenpleiten und Wirtschaftsflaute hätten so viele Ursachen, wie es Meinungsäußerungen dazu gäbe. Kein Wunder, dass viele Bürger verunsichert sind. Welchem „Experten“ sollen sie glauben? Eine „Entscheidungshilfe“ bot zum Jahreswechsel die Springer-Tageszeitung „Die Welt“ an. In einer Eigenwerbung für eine Dokumentation mit dem Titel „Karriere 83“ war der Schuldige ohne große Mühe auszumachen, hieß es da doch, der Bürger müsse die soziale Hängematte verlassen und anpacken. Zitat: „Nicht weniger Arbeit heißt das Gebot der Stunde, sondern mehr. Die Lohnkosten sind der Produktivität enteilt. Das Bad auf der Tenne des Wohlfahrtsstaates hat träge gemacht. Doch die Erkenntnis dämmert, dass Hände zum Zupacken geschaffen sind, nicht zum Offenhalten. Wer voran will, muß nicht nur über seinen Gäulen die Peitsche schwingen, sondern auch über sich selbst“.

Nun wissen wir es also: Der „kleine Mann auf der Straße“, Sozialhilfeempfänger, Bafög-Studenten, Kindergeld-Bezieher, kurz all jene Bürger, die sozialpolitische, also Umverteilungs-Leistungen des Staates in Anspruch genommen haben, sind schuld an der mißlichen Wirtschaftslage. Und dann natürlich die Gewerkschaften mit Lohnforderungen.

Die markigen „Welt“-Sätze passen so recht zur Forderung der Unternehmer und der Bundesregierung nach maßvollen Lohnabschlüssen. Der vieldeutige Vergleich mit dem Peitschenschwinger und seinen Gäulen wirft allerdings die Frage auf, wer denn da die Peitsche schwingt und wer die Gäule sind. Und ob es nicht die Gäule sind, die die Ware zum Markt tragen.

Es ist in der Diskussion über die Ursachen der Wirtschaftsflaute eine wenig hilfreiche Vereinfachung, deutlicher, es ist eine Verunglimpfung der Arbeitnehmer, von träge gewordenen Bürgern in einer sozialen Hängematte zu sprechen, die selbst nicht mehr anpacken wollten. Wer die Welt so sieht, sieht sie wie ein Gaul – mit Scheuklappen. Was aber steckt nun hinter dem von der neuen Bundesregierung betriebenen und von vielen Unternehmern begrüßten Abbau staatlicher Sozialleistungen? Es ist die alte These der Angebotsökonomie, man brauche der Wirtschaft nur bessere Angebotsbedingungen zu bieten (die hierfür benötigten staatlichen Subventionen zweigt man aus dem Sozialetat ab), und schon werde die Wirtschaft wieder investieren, werde es mit ihr wieder voran gehen, was automatisch einen Rückgang der Arbeitslosenzahl zur Folge habe.

Dem lässt sich entgegenhalten, dass die Zinssenkungen der vergangenen Monate, die die Konjunktur wesentlich beleben sollten, von vielen Unternehmen lediglich zur Konsolidierung ihrer eigenen Finanzen, nicht aber für neue Investitionen genutzt worden sind. Und wenn investiert wurde, so vielfach mit dem Ziel zu rationalisieren. Rationalisierung aber bedeutet „Freisetzung“ von Arbeitskräften, man denke nur an die wachsende Bedeutung von Computern in Büros und Werkshallen, die durchschnittlich drei Arbeitskräfte ersetzen, aber jeweils nur einen neuen Arbeitsplatz schaffen, wie es im „Heute-Journal“ (ZDF) vom 19.12.1982 hieß. Auch müssen sich Verfechter der Angebotsökonomie fragen lassen, welchen Sinn eine solche staatliche Wirtschaftspolitik haben soll, wenn den Verbrauchern das Geld fehlt, um die von einer durch Bonn angekurbelten Wirtschaft produzierten Waren kaufen zu können.

Forderungen nach einer Berücksichtigung der Verbrauchsökonomie bei ihrer Version von Wirtschaftspolitik hat die FDP-CSU-CDU-Regierung bislang unberücksichtigt gelassen. Und diese den Vorstellungen der Arbeitgeberverbände sehr entgegenkommende Haltung hat in Deutschland Tradition. In der Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl ( der auf Tradition in diesem unserem Lande bekanntlich großen Wert legt) vor dem Deutschen Bundestag am 13. Oktober 1982 lässt sich das „Traditionelle« dieser einseitigen Wirtschaftspolitik zweifelsfrei nachweisen. Man braucht zum Vergleich nur eine Denkschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie heran zu ziehen, die das Datum trägt „2. Dezember 1929“.

Was die deutschen Unternehmer vor 53 Jahren von der Regierung forderten, um die Wirtschaft zu beleben, hat sich heute die Bonner Rechts-Regierung auf ihre Fahnen geschrieben. Es bestand für Helmut Kohl und seine Mannschaft offenbar kein Anlass, dazu lernen zu müssen.

Schon die „Präambeln“ beider Erklärungen gleichen sich. Der Reichsverband der Deutschen Industrie am 2. Dezember 1929: „Wenn es nicht gelingt, das Steuer umzulegen und unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eine entscheidende Wendung zu geben, dann ist der Niedergang der deutschen Wirtschaft besiegelt.“

Helmut Kohl am 13. Oktober 1982:“Wir (brauchen) jetzt eine neue Wirtschafts- und eine neue Gesellschaftspolitik.( … ) Jetzt kommt es darauf an, die noch andauernde Talfahrt unserer Wirtschaft aufzuhalten.“ Und darüber, wie dies geschehen soll, besteht zwischen den Unternehmern von einst und den Regierungspolitikern: von heute weitgehende Einigkeit. Der Reichsverband der Deutschen Industrie vom 2. Dezember 1929: „Die deutsche Wirtschaft… muß verschont bleiben… von politischen Einflüssen, die von außen her in den Wirtschaftsprozeß hineingetragen werden.“

Helmut Kohl am 13. Oktober 1982: „Die Wirtschaft (braucht) eine Zukunftsperspektive, die frei ist von unnötigen Belastungen, Verunsicherungen und bürokratischen Auflagen durch den Staat.!“ Nicht verschwiegen wird, was unter „politischen Einflüssen“ und „unnötigen Belastungen“ verstanden wird. Der Reichsverband der Deutschen Industrie vom 2. Dezember 1929: „Die Vorbelastung der Produktion durch Steuern ist auf das unumgängliche notwendige Maß zurückzudämmen.“ – “ … fühlbare Entlastung von denjenigen Steuern, die die Kapitalbildung hindern oder kapitalzerstörend wirken“ – „…. stärker als bisher indirekte Besteuerung“.`

Helmut Kohl am 13. Oktober 1982: „… steuerliche Entlastungen zur Stärkung der Investitions- und Innovationskraft der Wirtschaft“. – „Investitionen … erfordern positive Ertragserwartungen und hinreichendes Eigenkapital“ – „die Be-steuerung muß künftig mehr als bisher auf diesen Sachverhalt Rücksicht nehmen“.- „Mehrwertsteuererhöhung zum l. Juli 1983“.

Was dem einen (Unternehmer) gegeben werden soll, muß dem anderen ( Bürger) genommen werden. Entweder auf dem Wege über eine höhere indirekte Steuer/Mehrwertsteuer oder noch gezielter über den Wegfall von Sozialleistungen, also über eine Umverteilung von unten nach oben. Die Sprechblasen, mit denen ein solches Verständnis von sozialer Gerechtigkeit verteidigt wird, waren vor 53 Jahren schon so wie heute. Der Reichsverband der Deutschen Industrie am 2. Dezember 1929: „Die materiellen Ansprüche der Sozialpolitik an die Wirtschaft müssen sich in den Grenzen der Leistungsfähigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten der Wirtschaft halten“. Helmut Kohl am 13. Oktober 1982: „Die Ansprüche an den Staat und die Systeme der sozialen Sicherung wurden an der optimistischen Vorstellung ein ständigen Wachstums der Wirtschaft orientiert“.

Und damit schließt sich der Kreis: Was für die Tageszeitung „Die Welt“ das „Bad auf der Tenne des Wohlfahrtsstaates“, ist für Helmut Kohl optimistisches Anspruchsdenken. Davon überzeugt, „dass freie Initiative und Leistung für den einzelnen wie für das Ganze besser sind als staatliche Lenkung und Bevormundung“, vertraut Kanzler Kohl „auf den Bürger., der seine Zukunft in seine Hände nimmt“! Die neue Bundesregierung scheint davon auszugehen, eine lupenreine Wirtschaftspolitik sei die beste Sozialpolitik.

Damit unvereinbar ist die Idee einer Sozialpolitik, deren Ziel soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, soziale Sicherheit und sozialer Ausgleich (als Problem der Umverteilung) sind. Angesichts einer Regierungspolitik, die diese sozialpolitischen ZieIe mehr und mehr verleugnet, ist eine Rückkehr der Gewerkschaften zur „Konzertierten Aktion“ unvorstelIbar. Und anders als die Bundesregierung, die auf die Angebotsökonomie setzt, sehen die Gewerkschaften in einer genügenden gesamtgesellschaftlichen Nachfrage die Chance zur Überwindung von Rezession und Unterbeschäftigung, wobei die Nachfrage durch eine gleichmäßigere Einkommensverteilung im Rahmen einer antizyklischen Wirtschaftspolitik herbeigeführt werden soll, wie schon Karl Schiller sie propagiert hat. Das System sozialer Sicherung dient der Stabilisierung der Nachfrage. Helmut Kohl und seine Regierung werden diese Ansicht so lange nicht teilen, wie sich in ihrer Wirtschaftspolitik Unternehmervorstellungen aus der Zeit des Niedergangs der Weimarer Republik widerspiegeln.