Stipendium als letzte Hoffnung

Dezember 1982:  Zur Umstellung des Studenten/Studentinnen-Bafög auf Darlehen im Dezember 1982

Lange kann Uwe R. so nicht weitermachen: Drei Nächte in der Woche in Herdecke Taxi fahren und tagsüber an der Ruhr-Universität in Bochum Sozialwissenschaften studieren. Zum Beispiel vergangenen Dienstag: Da verschlief er die Statistik-Vorlesung. Ausgerechnet die. Wer in Statistik den Anschluss verpasst, braucht an die Zwischenprüfung zum Hauptstudium gar nicht erst zu denken. Und Uwe R. weiß: Wenn er zum Ende des nächsten Semesters diese Hürde nehmen will, wird er büffeln müssen. Besonders in Statistik.

Er weiß aber auch: Ohne Job kein Studium. Denn die monatliche Ausbildungsförderungsbeihilfe des Staates, das sogenannte Bafög, reicht in seinem Fall gerade für die Fahrtkosten. Doch wenig ist mehr als gar nichts. Ein Verrückter also, der freiwillig darauf verzichtete?! Man kann es auch anders sehen: Die Vorstellung, dieses Geld eines Tages zurückzahlen zu müssen, ist ihm zuwider, zumal ein Stellenmarkt für Diplom-Sozialwissenschaftler so gut wie nicht existiert. („Mit Sowis kannst Du die Straße pflastern“, heißt es an der Ruhr-Uni in Bochum, und nicht nur da.) Deshalb überlegt Uwe R. zur Zeit, ob er sich in Zukunft nicht lieber ohne staatliche Hilfe durchs Studium schlagen soll, so gut es eben geht. Und wie er denken viele Studenten an den bundesdeutschen Hochschulen, deren berufliche Zukunft nicht gerade rosig aussieht. Für sie hat das Bafög etwas Abschreckendes, seit die Bundesregierung dessen Umstellung auf Darlehensbasis beschlossen hat. Da versuchen sie schon lieber ihr Glück bei einer der vielen kleinen und größeren Studienwerke in der Hoffnung auf ein Stipendium, auch wenn die eigene Abiturnote nicht gerade zur „Spitze“ gehört.

Dass Bafög-geschockte Studenten in zunehmendem Maße so denken, beweist die steigende Zahl von Anfragen und Anträgen, die Tag für bei den Studienwerken eingehen. Bafög und Stipendium – ziehen wir einen Vergleich:

Pro Jahr lässt sich die Bundesregierung die soziale Sicherung der Studenten rund drei Milliarden Mark kosten. Eine Ausbildungsförderung, die dem Staat in der Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte sichern soll; Fachleute, die die Bundesrepublik braucht, um auf dem Weitmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben.

Das ist unumstritten. Die Frage ist nur, weIcher Art der Ausbildungsförderung Vorrang eingeräumt werden soll. Der Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz, dem Bafög, liegt der Gedanke der Chancengleichheit zugrunde. Dementsprechend sind die jeweiligen Einkommensverhältnisse das entscheidende Kriterium im Bewilligungsverfahren. Leistung und Begabung sind dagegen die Hauptkriterien bei der Vergabe von Stipendien durch die verschiedenen Studienwerke. Zwar fließt aus beiden Quellen Geld an die Studenten. Die Begabtenförderung ist jedoch mehr als nur eine materielle Hilfe; da werden Sprachkurse angeboten, Auslandsaufenthalte vermittelt sowie Besichtigungen, Beratungsgespräche mit Professoren und Diskussionen mit namhaften Referenten angeboten. Der pädagogische und bildungspolitische Sinn der Begabtenförderung ist es, durch ein breit gefächertes Angebot intellektueller Anregungen und materieller Hilfen die Entfaltung von Fähigkeiten zu fördern. Bafög bedeutet dagegen ausschließlich Geld. Das war schon immer so. Neu ist allerdings, dass Bafög-Empfänger ihre Beihilfe Zukunft nach Abschluss ihres Studiums in voller Höhe zurückzahlen müssen und nicht mehr wie bisher nur teilweise, während Stipendiaten ihre monatliche Überweisung vom Studienwerk nach wie vor als Geschenk betrachten können. in dieser Neuregelung sehen manche Studienwerke eine Gefahr. Sie befürchten, dadurch werde die Begabtenförderung mehr aus finanziellen und weniger aus ideellen Gründen erstrebenswert. Gernot Folkers vom Evangelischen Studienwerk: „Durch die weite Öffnung der Schere zwischen allgemeiner Studentenförderung und Begabtenförderung wird der Begabte aus der Solidargemeinschaft der Studierenden entlassen, sein Privileg, ohnehin schon immer gegeben, wird deutlich aufgebläht. Dem wissenschaftlichen Diskurs kann dies nicht nützlich sein!‘

Begabtenförderung hat in Deutschland eine lange Tradition. Zwei Einrichtungen vergaben im Jahre 1925 ihre ersten Stipendien: Die überkonfessionelle und überparteiliche „Studienstiftung des deutschen Volkes“ und die zur SPD gehörende Friedrich-Ebert-Stiftung. Nach 1948 folgten das Evangelische Studienwerk, die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, das Cusanus-Werk der katholischen Bischöfe, die Conrad-Adenauer-Stiftung der CDU, die Friedrich-Flick-Förderstiftung und die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP. Auf diese acht Studienwerke verteilt sich die große Zahl der Stipendien, die heutzutage in der Bundesrepublik an deutsche Studenten vergeben werden. Von allen Studienwerken vergibt die „Studienstiftung des deutschen Volkes“ alljährlich die meisten Stipendien. Seit 1948 förderte sie rund 14.000 Studenten mit durchschnittlich 430 Mark pro Kopf und Monat. Der größte Teil des Geldes, das ihr zur Verfügung steht, stammt aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Und auch bei den übrigen genannten Studienwerken legt in erster Linie dieses Ministerium den finanziellen Förderrahmen fest. Die Hans-Böckler-Stiftung beispielsweise erhält mehr als 9o Prozent des Geldes, das sie für Stipendien aufwendet, aus der Bundeskasse.

Die Abhängigkeit vom Bund, die sich in diesen Zahlen widerspiegelte hat entscheidende Auswirkungen: Zum einen sind für die Berechnung der Stipendienhöhe Richtlinien des Ministeriums maßgebend, aus denen sich der Höchstsatz der Förderung von derzeit 72o Mark und das zusätzlich gezahlte Büchergeld von 15o Mark pro Monat ergeben. Zum anderen legt der Bund durch seine Zuschüsse indirekt fest, wie viele Stipendien pro Jahr neu vergeben werden können. Dazu Friedrich-Wilhelm Witt, Leiter der Abteilung Studienförderung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Aufgrund des vorgegebenen finanziellen Rahmens konnte in den zurückliegenden Jahren eine große Zahl von Bewerbern, die grundsätzlich den Förderungskriterien der Stiftung entsprachen, kein Stipendium erhalten. Es ist damit zu rechnen, dass sich in Zukunft diese Relation noch weiter verschlechtern wird. So werden im laufenden Haushaltsjahr allenfalls knapp 2oo neue Bewerber im Rahmen der Studentenförderung berücksichtigt werden können“.

Und damit zurück zum Bafög. Nach Ansicht der „Ständigen Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Staatlichen Fachhochschulen der Länder“ stellt die vollständige Umstellung der Bafög-Förderung auf Darlehen eine bildungspolitische Wende dar. Vor allem für Studenten aus einkommensschwachen Familien müsse die Förderung durch Darlehen eine abschreckende Wirkung haben. Für den nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Hans Schwier folgert daraus, dass eine berufliche Chancengleichheit junger Menschen nicht mehr gegeben sei. Zitat: „Kinder einkommensschwacher Familien werden vom Studium abgehalten“.

In welch entscheidendem Maße Bafög bisher bildungsferne Schichten mobilisieren konnte, belegt das Deutsche Studienwerk mit zwei Zahlen: 62 Prozent der durch Bafög geförderten Studenten hatten Väter mit einem Volksschulabschluss, dagegen nur 29 Prozent der Studierenden, die kein Bafög erhielten.

Im vergangenen Jahr, unterstützte der Staat genau 33 Prozent aller deutschen Studenten von wissenschaftlichen Hochschulen aus dem Bafög-Topf. Zum Vergleich: im Jahre 1956 war es nur 18 Prozent nach dem sogenannten Honnefer Modell. Aber auch jetzt können nur etwa elf Prozent aller Studenten allein mit Hilfe öffentlicher Gelder studieren, wogegen mehr als vierzig Prozent ihr Studium aus ganz verschiedenen Einnahmequellen finanzieren

Zum Einkommen: Die Hälfte aller Studenten hat pro Monat weniger als 750 Mark zur Verfügung. Kein Wunder also, dass jeder dritte Student – einer Studie des Deutschen Studentenwerks zufolge – seine finanzielle Lage als prekär bezeichnet. Demgegenüber stehen die Stipendiaten relativ gut da. Sie sind allerdings im Vergleich zu den Bafög-Empfängern eine verschwindend kleine Minderheit: Nur zwei Prozent aller Studenten in der Bundesrepublik erhalten ein Stipendium.

Pro Monat mehr als 6oo Mark bekommt jeder zweite Stipendiat, aber nur jeder dritte Bafög-Empfänger. Diese spüren Preissteigerungen und Beihilfekürzungen daher durchweg eher als ihre Kommilitonen mit Stipendium. Allerdings hat das Deutsche Studentenwerk festgestellt, dass Studenten jedweder Gruppe kaum bereit sind, Schulden zu machen; auch nicht bei größer werdendem finanziellen Druck. Sie versuchen vielmehr statt dessen, sich andere Geldquellen zu erschließen.

Und damit zurück zu den Studienwerken und den verstärkten Bemühungen der Studenten um Begabtenstipendien. Die Friedrich-Ebert-Stiftung stellte dazu fest: „Schon unmittelbar nach Ankündigung der nunmehr von der Bundesregierung beschlossenen Änderung des Bafög war eine merkliche Zunahme von Stipendien-Anträgen zu verzeichnen“. Und für die kommenden Monate erwartet die Friedrich-Ebert-Stiftung eine weitere Zunahme der Antragsflut. Entsprechend äußerten sich auf Anfrage auch Cusanus-Werk, Friedrich-Naumann-Stiftung und Friedrich-Flick-Stiftung. Mit einem deutlichen Ansteigen der Bewerbungen im Herbst dieses Jahres rechnet Gernot Folkers vom Evangelischen Studienwerk. Er beobachtete bereits vor drei Jahren einen Zusammenhang zwischen Bewerberzahl und Änderungen beim Bafög:“ Seitdem das Bafög zum ersten Mal deutlich verschlechtert wurde, also seit 1981, ist unsere Bewerberzahl ziemlich sprunghaft um ein Drittel angestiegen – non halbjährlich etwa 22 auf 300.

Eines steht fest: Die Studienwerke, vorwiegend leistungsorientiert, sind nicht in der Lage. Bafög-Aufgaben zu übernehmen. Und ihren Satzungen zufolge sollen sie das auch nicht. Die wachsende5 Zahl von Bewerbern, aufgrund der Bafög-Umstellung auf Volldarlehen verlangt jedoch von den Stiftungen, soziale Aspekte bei der Vergabe von Stipendien stärker als bisher zu berücksichtigen. Zwar betonte die Friedrich-Naumann-Stiftung auf Anfrage, sie beabsichtige nicht, auf die neue Bafög-Situation mit einer Verringerung ihrer Ansprüche an die Stipendienbewerber zu reagieren. Das Problem wird jedoch von fast allen Studienwerken gesehen. Zitat aus einem Schreiben der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Es kann darum gehen, bei der Einzelentscheidung der Förderungsanträge die soziale Situation des jeweiligen Bewerbers noch stärker als bislang in Betracht zu ziehen, ohne dabei das allen Begabtenförderungswerken vorgegebene Leistungskriterium zu vernachlässigen“.

Die Hans-Böckler-Stiftung des DBG fördert zwar entsprechend. ihrer Satzung Studenten aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten, vor allem Arbeiterkinder. Aber auch sie sieht keine Möglichkeit, die Verschlechterung beim Bafög in nennenswertem Umfang auszugleichen: „Eine Kompensation der für Studenten aus Arbeiterfamilien verheerenden Auswirkungen des Bafög–Kahlschlags ist uns wegen unseres zahlenmäßig geringen Förderungspotentials nicht möglich“. Durch flexible und sachgerechte Auswahlverfahren will die „Studienstiftung des deutschen Volkes“ auf die wachsende Zahl von Studenten reagieren, die von Hochschullehrern u.a. für ein Stipendium vorgeschlagen werden. Aber eine nennenswerte Steigerung der Stipendiatenzahl erwartet sie auf diesem Wege ebenfalls nicht.

Mit Sorge sieht das Evangelische Studienwerk einem weiteren Anstieg der Bewerberzahl entgegen: „Dies wird das ganze Gefüge der Auswahl, wie es derzeit steht, in Gefahr bringen. Es steht zu erwarten, dann die rein finanzielle Frage, ob die Gewährung eines Stipendiums die Fortsetzung des Studiums ermöglicht oder nicht, sich gegenüber den sonstigen Auswahlkriterien in den Vordergrund schiebt!“

Unbestritten hat die Begabtenförderung (über Kolloquien, Seminare und mehr ideelle Studienhilfen hinaus) schon immer einen finanziellen Vorteil mit sich gebracht. Bei der Vergabe von Stipendien wurde bisher in den meisten Fällen Begabung aber auch als eine Gabe angesehen, die eine Aufgabe einschließt – verantwortliches Handeln im Dienste der Gesellschaft. So heißt es beispielsweise in den Förderungsrichtlinien der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme in die Förderung ist die aktive Mitarbeit der Bewerber in politischen, sozialen und anderen gemeinnützigen Einrichtlungen und Organisationen“. So verstanden war Begabtenförderung auch eine Chance für den Stipendiaten, sich für diese gesellschaftliche Aufgabe während des finanziell weitgehend unbelasteten Studiums weiter zu qualifizieren.

Dieses zugegeben ideale Bild der Begabtenförderung wird durch die Neuregelung der Breitenförderung, durch die totale Umstellung des Bafög auf Darlehen, erheblich verzerrt. Denn indem durch die Verschlechterung beim Bafög indirekt der finanzielle Vorteil der

Begabtenförderung betont wird, tritt an die Stelle der vom Begabten bisher zu beweisenden sozialen Verantwortung das Bemühen um die eigene Karriere, und zwar unverhüllt und geradezu zwangsläufig. Auch wird der finanzielle Unterschied zwischen Breiten- und Begabtenförderung weder der gesellschaftlichen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit noch der bisherigen Vorstellung der meisten Studienwerke von einer Solidargemeinschaft aller Studierenden gerecht. Einer Solidargemeinschaft, zu der auch die Begabten gehören sollten.