Ist das Großkrankenhaus am Ende?

1980:   Genau zehn Jahre ist es her (geschrieben 1980), dass gegen Ende einer »Gütersloher Fortbildungswoche« im Westfälischen Landeskrankenhaus eine Resolution verabschiedet wurde, die menschenunwürdige Zustände in der Psychiatrie anprangerte und dadurch bundesweit eine Diskussion auslöste, die fünf Jahre später zur sogenannten Psychiatrie-Enquete und zur Forderung einer »gemeindenahen Psychiatrie« führte. Aber bis heute sind »ausgesprochene Missstände und menschenunwürdige Unterbringungs- und Behandlungsmethoden noch keineswegs überall beseitigt.«

Das betonte am ersten Tag der derzeit laufenden »32. Gütersloher Fortbildungswoche« Prof. Dr. A. Finzen vom Niedersächsischen Landeskrankenhaus in Wunstorf. Und Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, seit neun Monaten Leiter des Westfälischen Landeskrankenhauses Gütersloh, stimmte ihm zu. Beide plädieren nachdrücklich für eine Auflösung der psychiatrischen Großkrankenhäuser »in den nächsten dreißig Jahren« (Finzen). Prof. Dörner zur Zukunft »seines« Krankenhauses, wie er sie sich vorstellt: »Entweder, die Kreise Herford und Detmold sowie die Stadt Bielefeld übernehmen auch die stationäre Vollversorgung, etwa als Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern; dann schrumpft das Landeskrankenhaus Gütersloh auf eine Größe zurück, wie sie noch zur Versorgung des Kreises Gütersloh erforderlich ist. Oder aber Herford, Detmold und Bielefeld legen sich nur kleinere psychiatrische Abteilungen für die Akutversorgung zu. Dann bliebe dem Landeskrankenhaus außer der Versorgung des Kreises die Aufgabe eines Schwerpunktkrankenhauses für schwierigere Patienten!«

Der »Prozeß der Auflösung« sei bereits im Gange, stellte Dörner am Dienstag vor rund 500 Teilnehmern der Fortbildungswoche fest. Am Westfälischen Landeskrankenhaus Gütersloh beispielsweise sei die Durchschnittsbelegung von 1400 auf gesunken. Als Gründe dafür nannte Prof. Finzen den Einsatz der „Lebenshilfe“ für geistig Behinderte, freie Heilstätten und ambulante Beratungsstellen für Alkoholiker, Altenkrankenheime für alte psychisch Kranke sowie sozialpsychiatrische Dienste, Tageskliniken, Übergangs- und Dauerwohnheime für Schizophrene.

Dies alles resultiert laut Prof. Dörner aus einer wachsenden Bereitschaft der Bevölkerung, »störende Handlungsweisen, befremdliches Äußeres und seelische Leiden zu tolerieren, zumal wenn dies mit ambulanter Hilfe und Beratung verbunden ist. « Aber auch Großkrankenhäuser mit 25 Prozent weniger Betten als vor zehn Jahren sind noch Großkrankenhäuser, wobei, was ihre Auflösung angeht, ganz unterschiedliche Zahlen kursieren. Die Psychiatrie-Enquete setzte die Obergrenze noch bei 600 Betten fest, die »Bundesdirektoren-Konferenz« sprach in diesem Jahr von maximal 200 bis 400 Betten, und Prof. Dr. W. Pittrich, Gesundheitsdezernent beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Träger des Landeskrankenhauses Gütersloh, plädierte am Dienstag für eine Reduzierung auf 500 bis 600 Betten.

Für Prof. Dr. Klaus Dörner bleiben jedoch auch Krankenhäuser mit 300 bis 400 Betten noch strittige Großkrankenhäuser, wenn ihr Versorgungsgebiet mehr als 250 000 Einwohner umfasst. Dies sind aber nicht seine einzigen Kriterien. Mit der Aufzählung weiterer verband der »LKH«-Leiter am Dienstag herbe Kritik: »Großkrankenhäuser beherbergen Menschen auf Lebenszeit. In ihnen überwiegt nicht die Förderung der Entwicklung der Menschen, sondern das Unschädlichmachen sozial störender Handlungsweisen. In ihnen werden Menschen zwecks leichterer Verwaltung nach Geschlecht oder Krankheitsbildern sortiert, werden zwischenmenschliche Begegnungen, die in einem geschützten Raum nur förderlich sein können, eher behindert als gefördert!«

Denn den Großkrankenhäusern sei bei ihrer Entstehung die Feuerwehraufgabe zugeteilt worden, die sich industrialisierende Gesellschaft möglichst frei zu machen von störenden und unberechenbaren Verhaltensweisen, damit »eine möglichst große Zahl von Menschen mit möglichst billigen baulichen und personellen Mitteln möglichst perfekt versorgt und kontrolliert werden könne.«

Entgegen diesen gesellschaftlichen Bestrebungen sieht Dörner »keinen einzigen psychiatrischen Grund für die Existenz psychiatrischer Großkrankenhäuser!« (Prof. Finzen: »Denn in diesen überregionalen Häusern reißen die Kontakte der Patienten zur gewohnten Umwelt ab!«, wogegen laut Pittrich die Lebensbedingungen psychisch Kranker in Krankenhäusern so normal wie möglich sein sollten).

Entsprechend forderte auch die Psychiatrie-Enquete die Ablösung der Großkrankenhäuser zugunsten eines »gemeindenahen, gestuften, kontinuierlichen Behandlungssystems, bestehend aus psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern »vor Ort“ mit 80 bis 100 Betten, Tageskliniken, Übergangs- und Dauerwohnheimen, ambulanten Behandlungsmöglichkeiten und Selbsthilfegruppen« (Finzen). Und dies heißt eben laut Prof. Dörner, beispielsweise das Landeskrankenhaus Gütersloh lediglich auf den Kreis Gütersloh zu beziehen. Zitat: »Psychische Störungen entstehen in der Regel aus der Besonderheit von Beziehungen zwischen mehreren Menschen. Die systematische Einbeziehung der Angehörigen in die stationäre Behandlung lässt sich aber nur in einem kleineren Einzugsbereich verwirklichen.

Und wie? »Indern die Großkrankenhäuser, die eher die Hospitalisierung der Kranken fördern, zu Behandlungszentren mit kleinen überschaubaren Funktionsbereichen, kollegialen Leitungsstrukturen und ambulanten Diensten umgewandelt werden«, bestätigte Prof. Pittrich in seinem Referat. Gleichzeitig müsse die Bevölkerung mit den psychisch Kranken und ihren Problemen konfrontiert werden, um Vorurteile abbauen zu können. Dass das »LKH« Gütersloh diesen Weg bereits beschreitet, stellte Prof. Dr. Dörner fest. Die gemeindenahe Angehörigen- und Laienarbeit werde systematisiert, und im Kreis Herford habe das Verantwortungsbewusstsein der politischen Gremien für die Gemeindepsychiatrie bereits gefördert werden können. (In diesem Zusammenhang fiel über den Kreis Gütersloh kein Satz.)

Für ebenso wichtig wie »Öffentlichkeitsarbeit« hält der Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh aber auch, entsprechend der zunehmend eigenverantwortlichen Aufgabe des Pflegepersonals ein Pflegekonzept zu entwickeln, das sich mehr an Selbsthilfe als an Fremdversorgung orientiert und sich so den natürlichen Lebensbedingungen möglichst nähert. Dabei müssten Pfleger wie Ärzte mutiger werden, gegenüber der Öffentlichkeit auch die Grenzen ihrer Behandlungsmöglichkeiten einzugestehen. Denn das in der Bevölkerung häufig anzutreffende Misstrauen gegenüber psychiatrisch Tätigen sei daraus erwachsen, »dass diese in ihren Versprechungen früher den Mund oft zu voll genommen haben.“

Zu den Vorschlägen der Professoren Finzen und Dörner wurden am Dienstag aber auch Bedenken laut. Während sich Prof. Pittrich vom Landschaftsverband auf Skepsis gegenüber den psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern beschränkte, weil er in dieser Neuregelung eine Verschärfung des Personalmangels an den bisherigen Landeskrankenhäusern sieht und daraus eine »Zwei-Klassen-Psychiatrie ableitet, ließ Prof. Dr. H.J. Haase von der Pfalzklinik Landeck lediglich „mehrtägige stationäre Behandlung vor Ort« etwa bei Persönlichkeitskrisen zu, angebunden an entfernter liegende psychiatrische Krankenhäuser. Im übrigen wandte er sich gegen die Reduzierung der Bettenzahlen als solche. Großkrankenhäuser könnten durchaus ihre Berechtigung behalten, sofern sie zu »Fachkrankenhäusern mit spezialisierten Fach- und Funktionsbereichen für psychisch Alterskranke, Suchtkranke, psychotisch Kranke, neurotisch Kranke, geistig Behinderte u.a. umgewandelt würden.« (Zitat: »Patienten mit verschiedenen Krankheiten sollten wir nicht durcheinanderwirbeln.« ) Dabei sollte jede klinische Einheit nicht mehr als hundert Behandlungsplätze umfassen bei eigenem Behandlungs-, Freizeit- und Beschäftigungsprogramm. Haase: »Sechs bis acht solcher Kliniken zusammengefasst sind kein Großkrankenhaus in dem bisher beschriebenen Sinne!«

Pro Jahr benötigten in der Bundesrepublik 200.000 psychisch Kranke eine sechs bis zwölf Wochen dauernde Krankenhausbehandlung, fuhr Haase fort. Deshalb sollten die psychiatrischen Fachkrankenhäuser auch jenen Patienten vorbehalten bleiben, die täglich psychiatrisch bzw. psychotherapeutisch behandelt werden müssten, also »ausschließlich Behandlungsfälle im Sinne der Krankenkassenordnung«, Alle anderen Kranken seien dort fehl am Platze. Für Langzeitpatienten müssten stattdessen Wohnheime mit beschützenden Werkstätten und andere Rehabilitationsmöglichkeiten geschaffen werden.

An dieser These entzündete sich während der Pressekonferenz, zu der der Landschaftsverband für Dienstagmittag eingeladen hatte. ein »Experten-Zwist. Sowohl Professor Dörner als auch Professor Finzen wiedersprachen ihrem Landecker Kollegen. »Wir sind für die Langzeit-Patienten genauso verantwortlich wie für die Akut-Kranken«, betonte Dörner. Er hielte es für einen Fehler, eine Krankenhausauflösung durch Verlagerung zahlreicher Langzeitpatienten in Heime zu betreiben, weil diese dort »vom Regen in die Traufe kommen könnten« aufgrund der dort ebenfalls anzutreffenden Strukturmerkmale von Großkrankenhäusern.

Dörner plädierte deshalb für den »wesentlich mühsameren Weg, auch für die Langzeitpatienten im Regelfall Wohn-, Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten in ihrer Gemeinde zu finden. (Derzeit vegetieren mehr als 100.000 Bürger als ‚Pflegefälle‘ in psychiatrischen Ghettos und Heimen dahin.)

Noch offen ist nach Ansicht von Prof. Finzen die Frage, wie viele Patienten dann noch in dem althergebrachten »Asyl« bleiben müssten. Prof. Pittrich warnte denn auch vor einer Verelendung schwer psychisch Kranker, deren Leben in der Gesellschaft durch mangelnde Hilfsbereitschaft und Toleranz erschwert werden würde. Für diese müsste, fuhr Dörner fort, in den »Rumpf-Krankenhäusern« ein personalaufwendigeres, geduldigeres und individuelleres Behandlungskonzept entwickelt werden. Ein Konzept, das es somit heute noch nicht gibt? Prof. Dörner gab darauf an anderer Stelle unverhohlen eine Antwort. Zitat: »Der Krankenhausbetrieb wird durch Massenbefriedigung aller Bedürfnisse unter einem Dach verbilligt. Und das Kapital für die Behandlung von Akut-Kranken wird durch die Vernachlässigung des Langzeitkranken gewonnen.“ Eine Forderung stellten in diesem Zusammenhang die drei Experten gemeinsam: Die Pflegesätze in psychiatrischen Krankenhäusern („bislang halbiert« laut Dörner) müssten endlich denen in Allgemeinkrankenhäusern für körperlich Kranke angeglichen werden (Haase). Dörner: »Psychiatrisch Kranke haben das gleiche Recht auf intensive Behandlung wie körperlich Kranke!“

Damit war man bei den Finanzen angelangt. Dass ein Krankenhaus entsprechend einem Gesetz aus dem Jahre 1972 nach wirtschaftlichen Prinzipien geführt werden müsse, hält Prof. Dörner für fragwürdig. Und er nannte ein Beispiel: »Für eine Station unseres Hauses wurden vor anderthalb Jahren Nachttischlampen gekauft. Dennoch ist abzusehen, dass die dazugehörigen Stecker erst in weiteren anderthalb Jahren verlegt werden können“.

Weil aber der Staat nicht aus dem Vollen schöpfen könne, stellte Dr. H. Rolf von der Kämmerei des Landschaftsverbandes in seinem Vortrag fest, seien bei der Führung, eines Krankenhauses wirtschaftliche Aspekte nicht auszuklammern. Rolf machte den Fachärzten jedoch Mut: »Wenn sich die Bemühungen am Patienten orientieren, dann gibt der therapeutische Rahmen die wirtschaftliche Krankenhausgröße zwingend vor, dann sind die Mediziner als Experten aufgerufen, in aller Deutlichkeit – und auch für den Gesprächspartner nach. vollziehbar – die medizinischen Bedingungen zu nennen, deren wirtschaftliche Realisierung dann Aufgabe des Ökonomen ist.«

Dass er es auch etwas einfacher ausdrücken konnte, bewies der Vertreter des Landschaftsverbandes während der Pressekonferenz: »Die einzige Möglichkeit, eine gemeindenahe Psychiatrie zu verwirklichen, liegt in der Umverteilung der finanziellen Mittel. Das geht aber nur mit Hilfe der Politiker. Und diesen gegenüber brauchen die Ärzte eine starke Lobby!«

Daran hat es bislang gemangelt. Weil in der Bevölkerung die psychisch Kranken und ihre Probleme ein Tabu-Thema waren, glaubten auch viele Politiker, auf diesem Sektor weder Zeit noch Geld investieren zu müssen. Die in der Psychiatrie Tätigen haben es verärgert registriert. Und sie haben reagiert. Prof. Dr. A. Finzen: „Die Forderung nach der Auflösung der psychiatrischen Großkrankenhäuser ist eine politische Provokation, die sich gegen die Verschleppung der eigentlichen Psychiatrie-Reform richtet!“

Bleibt abzuwarten, wie die Politiker auf diese »Provokation« reagieren.

Gütersloh, Oktober 1980