Auf der Geisterbahn

Gedanken zur Bundestagswahl 1980.

Untiere mit rotglühenden Augen an der Fassade versprechen für das Innere das nackte Entsetzen. Aus Lautsprechern kreischt es. Der direkte Draht in die „Unterwelt“, wo gerade Teenagern, tapfer beschützt von ihren frischmännlichen Begleitern, ein mehr oder weniger wohliger Schauer über den Rücken rieselt? Oder der „Lockruf“ des Schausteller vom Endlos-Tonband, damit wieder fünf Mark in der Kasse klingeln und ein mit zwei Personen – meist Pärchen – besetzter Wagen die als „Höllenschlund“ bemalte Schwingtür durchstößt? Geisterbahn, Gruseln, Gespenster. King Kong. Sirenen. Flackernde Irrlichter. Geisterbahn auf der Michaelis-Kirmes in Gütersloh. Erinnerung an die eigene Kindheit ( „Mami, bitte noch fünf Groschen!“).

Also noch einmal rein in den Elektrokarren, auch wenn’s heute 2,50 Mark kostet. Vielleicht kehrt ja das Gruseln von damals wieder. Drinnen ist’s halbdunkel. Schade, pechschwarz wär‘ mir lieber. Der Karren biegt um eine Ecke. Weiter vorne zeichnet sich bereits ein „menschlicher“ UmriSS ab. Kurz bevor wir ihn passieren, erwacht das Gerippe zum Leben dank der Gütersloher Stadtwerke. Drähte glühen völlig unmotiviert auf, der Kopf wackelt. Und so geht’s denn weiter auf dieser neunzig Sekunden dauernden Fahrt durch eine Welt der Relais, Blitzlichter und Tonkonserven, aus denen längst auch der letzte Geist, hat es ihn je gegeben, vor Langeweile geflohen ist. Selbst „Catweazle“, jener Zauberer aus dem Mittelalter, der versehentlich ins dritte Fernsehprogramm geraten ist, würde hier bestenfalls noch vor dem elektrischen Strom erschrecken, den es zu seiner Zeit noch nicht gab, nicht aber vor einem Gorilla mit Sirene und anderen seltsamen Klappergestalten, die nicht einem Gruselkabinett, sondern der Werkstatt eines in den Anfängen steckengebliebenen Heimwerkers entsprungen zu sein scheinen und zum Lachen reizten.

Was diese ganz persönliche Beschreibung der »Geisterbahn« auf der Michaelis-Kirmes in einer „Klön-Kiste« (damalige Wochen-Kolumne) zu suchen hat, einen Tag vor der Bundestagswahl? Nun denn: Auch in einem Wahlkampf leuchtet so manches Licht auf, das kurz nach Schließung der Wahllokale bereits wieder verlöscht. Auch in einem Wahlkampf werden Geister beschworen aus längst vergangenen Tagen, die heute niemanden mehr erschrecken können. Auch in einem Wahlkampf spielt die Optik eine große Rolle und weniger das, was hinter der glänzenden Fassade steckt. Und auch in einem Wahlkampf wirkt so manche Rede monoton wie von einem Endlos-Tonband, ohne die wirkliche Meinung des Redners zu offenbaren. Apropos: Morgen Abend ist sie zu Ende – die Kirmes.

Gütersloh 1980 (während des Bundestagswahlkampfes)