Schottisches Abenteuer

1979:  Eine einspurige, gewundene Straße führt zwanzig Kilometer weit in den Strath Conon hinein, ein enges Gebirgstal westlich von Inverness im schottischen Hochland. Im Schankraum des kleinen Inn nicht weit von der Stelle entfernt, wo sich der unebene Asphalt in Schafweiden verliert herrscht an diesem Abend drangvolle Enge.

Von allen Gehöften des Tales sind sie gekommen, Schafzüchter zumeist, um einen Mann zu verabschieden, der in Aberdeen sein Glück versuchen will. Zum einen, weil die kleine Landwirtschaft, die er betrieb, nicht mehr genug abwarf. Zum anderen aber auch, weil es für seine Kinder im Strath Conon keine Arbeit gab.

Der Wirt, Posthalter und von allen als eine Art Bürgermeister anerkannt, überreicht dem »Auswanderer« ein Geschenk. Geld, von den Nachbarn gesammelt, um der Familie in Aberdeen den Start zu erleichtern. Die Unterhaltung, von Liedern unterbrochen, ist laut und doch wehmütig. So als ob ein alter Freund für immer gehe. Dabei ist die Strecke bis zur Ostküste gar nicht so lang. Und doch: Wie weit liegt die Industriestadt Aberdeen, Nachschubhafen für die Bohrinseln in der Nordsee, von dieser abgeschiedenen Idylle entfernt.

Und da war noch ein Mann, dessen Leben sich durch den hereingebrochenen Ölboom veränderte. In Moffat, einer kleinen Sommerfrische sechzig Kilometer südlich von Glasgow, stellt er seit einem Jahr schmiedeeiserne Artikel für die Touristen her. Ein Deutscher aus Kulmbach, der nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft 1945 in Aberdeen »hängen geblieben« war. Als Schlosser machte er sich dort selbständig, sparte, um eines Tages das Nachbargrundstück kaufen und seinen Betrieb vergrößern zu können. Doch dann kam das Öl und mit ihm ein Industriekonzern, der für das Gelände mehr bieten konnte als er. Da gab er auf. Das ist Schottland, wie es der Tourist erst auf den zweiten Blick erkennt. Hier der Landwirt, der zum Industriearbeiter wird, dort der Handwerker, den die Industrie vertrieben hat. Sie sind bezeichnend für den wirtschaftlichen Aufschwung, den der bisher so vernachlässigte Norden Großbritanniens nimmt, seit im Meeresboden Erdöl entdeckt worden ist. 1

Auch die 80 000 deutschen Touristen, die es alljährlich nach Schottland zieht, spüren den neuen Wind. Selbst wenn er nur nach Teer riecht: Industrieansiedlung zwingt zum Straßenbau. Und der ist überall im Gange.

Abseits der Hauptstraßen sind aber auch heute noch die einspurigen »roads« die Regel mit ihren unzähligen »passing places«, Ausweichstellen, die besonders für Gespannfahrer zur Qual werden können. Doch welche Entschädigung für einen Schnitt von vierzig Stundenkilometern ist die Landschaft, durch die diese Straßen führen. Hierin zeigt sich Schottland wie vor hundert Jahren: karstige Hochebenen, auf denen Schafe grasen, fruchtbare Täler, runde Bergkuppen, zerklüftete Steilküsten, von Wetter und Wellen gezeichnet. Im Frühjahr blühender Ginster bis zum Horizont, ganze Rhododendron-Wälder wie an der Straße von Fort William nach Mallaig. Und im Herbst, nicht weniger überwältigend in ihrer wilden Schönheit, die purpur und lila blühende Heide.

Das ist es, was die deutschen Touristen in Schottland suchen und was sie allerorten finden. Ein Drittel davon sind Camper. Und sie entdecken, meist schneller als die übrigen Besucher vom Kontinent, noch etwas in Schottland: Den Schotten, herzerwärmend wie der Whisky, den er trinkt. Freiheitsliebend war er schon immer, gesellig und gastfreundlich ist er, wenn er abends (bis 22.45 Uhr, so will es das Gesetz) in einem Pub sein »Pint of Bitter« trinkt, von englischer Reserviertheit dabei keine Spur. Nur in einem Punkt versteht er keinen Spaß: Wenn ein Ausländer von »den« Engländern spricht. Denn die gibt es nicht, nur Briten. „Engländer“ ist demgegenüber ein untergeordneter Begriff wie Ire oder Waliser. Und ein Schotte ist eben ein Schotte. Er ist stolz auf sein Land mit seinen Hunderten von Lochs, Seen, die sich über mehr als 1640 Quadratkilometer erstrecken, stolz auf jedes einzelne der unzähligen Schlösser, stolz natürlich auch auf die vielen Whisky-Brennereien, die vom häufigen Regen in diesen Breiten profitieren.

Seinem Nationalbewusstsein entsprechend kennt der Schotte auch genau Farben und Wappen der großen Clans. Mehr als hundert verschiedene Sippen werden heute noch in Schottland gezählt. Jede hat ihren eigenen Tartan, eine wollene Schulterdecke, deren Karo-Muster nur für einen echten Schotten unverwechselbar ist. Gelbgrün-blau das der Farquharsons in Braemar, rotgrün-blau das der Grants in Grantown. Zwei blaue Löwen tragen die Macdougalls aus Oban in ihrem Wappen, zwei rote die Campbells am Loch Tay. Bei den »Highland Garnes« und »Gatherings« kehren die Muster alljährlich wieder, auf den Kilts, die auch bei den dann ablaufenden Wettkämpfen nicht abgelegt werden. Beim Baumstammwerfen und Steinstoßen ebenso wenig wie beim Eisenschleudern oder Schwerttanz, von den Dudelsack-Meisterschaften gar nicht zu reden. Und kaum einer der 350 Golfplätze in Schottland, auf dem sich nicht irgendwo vom immergrünen Rasen ein Schottenrock leuchtend abhebt. (Dass unter ihm nichts sei, stimmt übrigens nicht; schließlich klettern selbst im Hochsommer die Temperaturen nur selten über 24 Grad, weshalb auch die Badehose getrost zu Hause gelassen werden kann.)

Den Kilt als Volkstracht kennt in Europa neben Schottland nur noch Albanien. Historische Verbindungen zwischen beiden Ländern deutet der alte Name Schottlands an, »Alba«. In Edinburgh hört ihn der Besucher zum ersten Mal. Im Museum auf der Festung hoch über der Stadt etwa, wo jeden Tag Punkt 13 Uhr eine Kanone elektronisch gezündet wird und der Donner bis zur Meeresbucht »Firth of Forth« hinüber zu hallen scheint. Edinburgh, das Perth im Jahre 1437 als schottische Hauptstadt ablöste, weckt mit seinen rußigen Sandsteinhäusern und geschäftigem Treiben den Drang gen Norden, nachdem sich der Camper im Riverside Caravan Park abseits der Hauptstraße von der 472 Kilometer langen Fahrt ab London erholt hat. Vielleicht erlebt er noch das große »Tattoo« mit, das alljährlich vom 17. August bis 9. September die britischen Militärkapellen im Wettstreit vereint. Oder er legt anhand der 208 im britischen Campingführer verzeichneten Plätze seine genaue Fahrtroute fest, wobei ihm auffällt, dass nur siebzehn davon mit vier Sternen ausgezeichnet sind. Doch sobald er dann die nächsten beiden Campingplätze auf seiner Strecke per Telefon »klar gemacht« hat – ratsam in den Sommermonaten – sollte er in Edinburgh seine Zelte abbrechen. Zuviel erwartet ihn noch.

Über die 1100 Meter lange Autobahnbrücke, die den Firth of Forth überspannt, führt die Fahrt nach Perth am Loch Leven entlang, wo sich auf einer Insel jenes Schloß erhebt, in dem Maria Stuart gefangengehalten wurde. Weiter zum wildromantischen Glenshee-Tal, das sich zum Paß »Spittal of Glenshee« hin verjüngt, bieten sich zwei Wege an: der direkte über Blairgowrie mit seinen Obstfeldern, oder der längere, dafür aber interessantere über Dunkeld und Pitlochry. Dunkeld besitzt nicht nur eine sehenswerte Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert und mit dem River Tay ein gutes Lachs- und Forellengewässer, sondern im „Erigmore House Caravan Park“ auch einen der Vier-Sterne-Campingplätze des Landes. Und in Pitlochry zieht eine »Fischleiter« die Besucher an, seitlich an eine Staumauer gebaut, um den Lachsen den Weg zu ihren Laichplätzen in den Quellwassern des Tay zu ermöglichen. Kapitale Burschen, an einer Stelle der »Treppe« durch ein Schauglas zu beobachten.

Hinter dem Glenshee-Skizentrum liegt Braemar, ein typisches Highlanddorf, in dem sich im 11. Jahrhundert erstmals die Clans zu Wettkämpfen versammelten. Nicht selten ist Königin Elisabeth Ehrengast, wenn das »Gathering« von Braemar am 2. September eröffnet wird. Denn im August und September hält sich die königliche Familie in der Regel im Balmoral Castle aus dem Jahre 1852 auf, nur acht Meilen von Braemar entfernt.

Noch ein Abstecher ins einsame »Lin of Dee«, ein Hochtal mit Wasserfällen und bizarren Felsschüsseln, vom Wasser des Dee in Jahrtausenden gewaschen, dann, zurück über Braemar, wird flussabwärts Ballater erreicht, Treffpunkt für Golfspieler und Angler. Apropos: Wer angeln will, braucht nicht wie in der Bundesrepublik einen Fischereischein. Es reicht eine Tageskarte für zwei bis zwanzig Mark, die Touristenbüros, Angelvereine oder Hotels ausstellen, sofern ihnen das Recht dazu von der Krone übertragen worden ist (schottische Tradition).

Zitat aus einer Broschüre für Gastangler in Schottland: »Das einzige Geheimnis ist: Man muss wissen, wo die Fische stehen und womit man sie fangen kann! – Auch ein Beispiel für schottischen Humor. Doch großer Fischreichtum in den klaren Seen und Flüssen sorgt dafür, dass auch der Anfänger zu seinem Fang kommt. Es braucht nicht gleich ein Lachs zu sein; eine kleine Forelle tut’s auch. Und wer die richtige Ausrüstung besitzt, kann schließlich noch an der Küste sein Glück versuchen. An manchen Stellen fällt das Ufer so steil ab, dass Kabeljau und Makrele (im Juli und August) praktisch zu Füßen des Anglers stehen.

Doch weiter von Ballater nach Tomintoul. Dort beginnt der »Whisky-Trail«, eine durch Schilder gekennzeichnete Rundstrecke von Destillerie zu Destillerie, in denen täglich Führungen stattfinden. Kenner des goldgelben Tropfens rühmen besonders die Glenfiddich-Brennerei in Dufftown in Vorfreude auf die Kostprobe, mit der jede Führung endet: Reiner Malz-Whisky, gebrannt mit dem,(so die schottische Bescheidenheit) weichsten Quellwasser der Welt, in bis zu zwölf Jahre lang gelagert in alten Sherry -Fässern.

Über Grantown on Spey wird Nairn erreicht, eine kleine Fischerstadt an einer bis nahe Inverness reichenden Meeresbucht. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Cawdor Castle, wo Macbeth von Duncan ermordet worden sein soll, zu den prähistorischen Steinhügeln von Clava und zum „Culloden Moor“, dem Wallfahrtsort nationalbewusster Schotten. Denn wo auf verwitterten Steinen, halb im Boden versunken, noch heute die Namen der alten Stämme zu entziffern sind, verlor am 16. April 1746 »Bonnie Prince Charlie« die letzte Schlacht auf britischem Boden. Gegner: die Engländer. Es war das Ende der alten Clan-Verfassung Schottlands, nicht aber des Drangs der Schotten nach mehr Eigenständigkeit im »United Kingdom«.

Hinter Inverness, der Hauptstadt des Hochlandes, der Abstecher ins Strath Conon vom Anglerzentrum Strathpeffer aus. Dann weiter an die Westküste nach Gruinard und Poolewe mit seinem tropischen Garten. Angrenzend Gairloch, wo am prächtigen Sandstrand das „Sands Holiday Centre“ über 380 Stellplätze für Caravans und 200 für Zelte verfügt. In der Nähe eines Naturschutzgebietes, das Goldadler und Wildkatze beherbergt, taucht Loch Maree auf, mit seinen 24 kleinen Inseln einer der schönsten Seen Schottlands, später dann das Fischerdorf Shieldaig mit seinen bunt gestrichenen Häusern. Weit und still das Glen Moriston. Der Fluss, der das Tal durchzieht, mündet bei Invermoriston in das 250 Meter tiefe Loch Ness. »Nessie«, das Seeungeheuer, prangt dort in den Touristenläden mit Schottenmütze und Kilt auf Ansichtskarten, lässt sich in natura jedoch leider nicht blicken. (Die Guiness-Brauerei hat als Fangprämie für »Nessie« 500000 Pfund ausgesetzt.) Am Ende des Sees liegt Fort Augustus mit seiner Benediktiner-Abtei aus dem Jahre 1878. Hier beginnen die vielen Schleusen des Kaledonia-Kanals, der es möglicht macht, Schottland von der Westküste bis nach Inerness per Boot zu durchqueren.

Weiter gen Süden taucht Ben Nevis auf, der mit 1345 Metern höchste Berg Großbritanniens. An seinem Fuße stand ein trutziges Fort, bis es 1864 geschleift wurde. Heute ist Fort William ein pulsierendes Touristenzentrum, nicht zuletzt wegen des na-en Glen Nevis, eines in seiner Ursprünglichkeit weitgehend erhalten gebliebenen Tales, das bei Reitern und Wanderern gleichermaßen beliebt ist.

Nächstes Ziel: Die Hafenstadt Oban. Hier sind es die guten Segelmöglichkeiten, die Makrelen-Fanggründe und Staffa, die die Touristen anziehen. Staffa, ein kleines Eiland im Gewirr der Oban vorgelagerten Inseln, wird beherrscht von säulenartig aufragenden Basaltfelsen, die wie eine monumentale Skulptur wirken, und der großen Fingalshöhle, der Mendelsohn eine Komposition widmete. An vielen Seen und weit ins Land reichenden Fjorden geht die Reise weiter nach Inveraray im alten Land Argyll, wo das Schloss derer von Campbell dem Besucher offen steht. (Nicht weit davon der gut eingerichtete Battlefield Caravan Park.) Und über Arrochar wird schließlich der vielbesungene Loch Lomond erreicht, mit 38 Kilometern Schottlands längster See. Nur eine Stunde trennen ihn von der Großstadt Glasgow; entsprechend groß ist die Zahl der Hotels und Pensionen. Letzte Station vor der »englischen« Grenze: Gretna Green. Touristenrummel in der alten Schmiede, in der noch bis 1940 jugendliche Ausreißer Ehen schließen konnten die in der Bundesrepublik nicht anerkannt wurden.

Auf dem Parkplatz vor der Schmiede deutsche Wagen gleich dutzendweise. Ein deutscher Camper erzählt, er habe mit seinem Wohnmobil die Fahrt von Edinburgh über Inverness und Oban nach Glasgow in fünf Tagen »gemacht«. Jetzt wolle er noch nach England in den Lake District und nach Wales. Ungläubiges Staunen in der Runde. Denn andere brauchten für die gleiche Strecke drei Wochen und waren dabei an manchen Stellen immer wieder versucht, noch einen weiteren Tag zu bleiben, so fesselte sie die schottische Landschaft. Wer aber Schottland ganz entdecken will bis hin zur Nordspitze, den Hebriden und der Insel Sky, kommt auch mit drei Wochen nicht aus. Er wird wieder kommen…