Lagunenstadt Venedig

1979:  Venedig_11Im Sommer, wenn täglich zwanzig- bis dreißigtausend Touristen vom Festland herüber kommen, um Venedigs Glanz und Elend zu erleben, ist die Lagunenstadt die teuerste Touristenattraktion der Welt. Im Winter dagegen breitet sich Melancholie aus.

Im Sommer, wenn täglich zwanzig- bis dreißigtausend Touristen vom Festland herüber kommen, um Venedigs Glanz und Elend zu erleben, ist die Lagunenstadt die teuerste Touristenattraktion der Welt. Dann verlangt der Gondoliere für eine einstündige Fahrt auf den Kanälen hundert Mark, und der Kaffee auf dem Markus-Platz scheint in Gold aufgewogen zu werden. Dann sind weder die fahrplanmäßig fahrenden Motorboote noch die Fremdenführer und Kellner dem Ansturm gewachsen.

Venedig_10Im Winter dagegen breitet sich Melancholie aus. Wenn auf dem Pflaster rund um den Campanile die Wasserlachen stehen, Überbleibsel des letzten Hochwassers, spürt der einsame Spaziergänger förmlich, dass diese Stadt, wie Berechnungen ergeben haben, in hundert Jahren um drei bis vier Zentimeter im schlammigen Meer versinkt; regelrechte Untiefen haben sich bereits unter manchen alten Häusern gebildet.
Venedig_02Wird diese Stille des Winters eines Tages auch während der Sommermonate einkehren? Werden die Deutschen, die ein Drittel aller ausländischen Besucher ausmachen – gefolgt von Amerikanern, Franzosen und Engländern -, größtenteils ausbleiben, wenn auf dem Canale Grande keine Motorboote mehr verkehren? Zur Zeit jedenfalls wird ernsthaft erwogen, Bootsmotoren von der größten Wasserstraße der Inselstadt zu verbannen. Noch aber bringt jede Minute ein neues „Vaporetto“, wie die kleinen Motorboote heißen, auf dem Canale Grande Touristen zur Piazza San Marco. Bedauernswert jene, die Venedig während einer eintägigen Fahrt für nur wenige Stunden erleben -Venedig lässt sich selbst noch aus Kärnten auf diese Weise erhaschen -, glücklicher da schon diejenigen, deren Feriendomizil quasi vor der Haustüre der Lagunenstadt liegt: im Ferienparadies „Jesolo-Cavallino“ etwa, von wo aus die Überfahrt mit einem in der Hauptreisezeit drangvoll eng beladenen Touristenschiff knappe dreißig Minuten dauert. Wer auf einem der 1,1 bis 55 Hektar großen Campingplätze am Lido di Jesolo Urlaub macht, kann so bequem Erholung mit Romantik und/oder Bildung verbinden.

Venedig_03Ein Fehler? Experten behaupten, im Hinblick auf ein besseres innerstädtisches Leben von Venedig sei es ein Fehlergewesen, 1846 die 3,6 Kilometer lange Eisenbahnbrücke und 1933 die 4,1 Kilometer lange Straßenbrücke zu bauen, die Venedig seitdem mit dem Festland verbindet. Doch auf diese Weise kann der Touristenstrom schneller fließen. Und die Touristen sind es letztlich immer noch, die diese Stadt am Leben erhalten. Romantik also nur auf den ersten Blick!
Doch der genügt vielen. Eine Fahrt auf dem 3,8 Kilometer langen und vierzig bis siebzig Meter breiten Canale Grande, eingerahmt von mehr als hundert Marmorpalästen und noch mehr mittelalterlichen und Rennaissance-Bauten, füllt so manchen Diafilm. Der „Palazzo Giustian“ etwa, wo Richard Wagner 1858 den Tristan komponierte, der „Palazzo Vendramin“, wo Wagner 1883 starb, der spätgotische Palast „Ca’Fascari“, der luxuriöse „Ca’Rezzonico“ mit seinem Museum des 12, Jahrhunderts, der von obern bis unten von einem flämischen Maler vergoldete „Ca’Oro“, der eine kostbare Gemäldesammlung beherbergt und der „Palazzo Pesaro“ mit seiner Sammlung moderner Meister. Hier bilden Romantik, Geschichte und Kunst eine schier untrennbare Gemeinschaft.

Venedig_04Natürlich lässt sich das alles im Schnellgang erleben. Die Camper vom Lido di Jesolo allerdings können sich Zeit lassen. Reicht ein Tag für das vorgenommene Besichtigungsprogramm nicht aus, fahren sie halt am nächsten Tag noch einmal mit dem Boot hinüber. Venedig an einem Tag zu entdecken, ist ohnehin unmöglich. Denn die Stadt besteht aus insgesamt 118 kleinen Inseln, durch 117 Kanäle getrennt und durch 400 meist steinerne Brücken verbunden. Von den 15 000 Häusern der Stadt sind fast 900 Paläste und genau 105 Kirchen.
Da wirkt die Anhäufung von Kunst auf manchen Besucher erdrückend. Kaum ein Gebäude ohne eine berühmte Fassade, einen malerischen Torbogen, kunstvolle Stuckaturen oder „nur“ ein Hinweisschild auf ein im Inneren hängendes Gemälde eines berühmten Malers. Venedig, das heißt Tizians, Bellinis, Veroneses, nicht zu vergessen Tintorettos „Paradies“ im Dogenpalast, das als das größte Ölgemälde der Welt gilt. Doch was wäre Venedig ohne seine Gondeln?! Jene 10,15 Meter langen „Traumboote der Verliebten“, von denen es in der Lagunenstadt im 17. Jahrhundert noch 10.000 und um 1800 noch fünf- bis sechstausend gegeben haben soll, heute jedoch nur noch 500 gezählt werden. Was wäre Venedig ohne seine Gondolieri mit den rotgeränderten Strohhüten?!

Venedig_05Doch auch hier ist der zweite, genauere Blick auf die romantische Kulisse nicht ungetrübt, Zwar singt er noch, der Gondolieri. Aber sein Mund bewegt sich nicht mehr. Die Musik kommt vom Band. Weil er sonst in der Hochsaison schnell heiser werden würde. Auch viel bare Münze könnte daran nichts ändern. Lohnenswert eine Gondelfahrt abseits der großen Touristenrouten, etwa in einen Seitenkanal nahe der Anlegekais der weißen Kreuzfahrtschiffe, wo die „Gondola“ auch heute noch nach alter Tradition gebaut werden. Eine Seltenheit im Schiffsbau: Die Gondeln sind asymetrisch zur Längs- ebenso wie zu der Querachse. Rechts 24 Zentimeter schmaler als links, hängt die Gondel auf diese Weise im Ruhezustand über.
Venedig_06Und noch etwas verrät der Besuch der kleinen Schiffswerft: Acht verschiedene Hölzer werden zum Gondelbau benötigt (Fichte, Eiche, Ulme, Nuss, Lärche, Buche, Linde und Kirsche). Man muss es glauben, denn sehen kann man es nicht. Schwarze Farbe überdeckt den größten Teil des Bootsrumpfes.

Romantisches „bella Venezia“. So schartig und rissig, vom Meerwasser ausgelaugt die hölzernen Sitze vieler Gondeln, so rissig bei abblätternder Farbe ist auch der Putz vieler alter Patrizierhäuser. Vorbei die Zeiten des Prunks und der Lebenslust. Der Frauenheld Giacomo Casanova, der 1725 in einer ärmlichen Gasse in der Nähe des antiken Theaters von San Samuele geboren wurde, hat beides noch erlebt. Auch der berühmte Komödienschreiber Goldini, der heute als Denkmalshöhe mit Dreispitz und Krückstock nahe der Rialtobrücke den Venezianern wie ehedem aufs Mal schaut.

Venedig_07Nach ihnen kam die Ruhe und die Poesie, bevor der Touristenansturm begann. Ernest Hemingway mag davon noch etwas gespürt haben, als er auf der Insel Torcello seine Erzählung „Der alte Mann und das Meer“ entwarf. Noch heute hat diese Insel etwas Verwunschenes. Wie hektisch, ganz den Souvenirs und dem Handel gewidmet sind dagegen die Inseln Murano, berühmt wegen ihrer traditionsreichen Glasbläserei -die sich leider heute allzu sehr in Geschmacklosigkeiten erschöpft -, und Burano, bekannt wegen der hier angefertigten Klöppelspitzen.

Venedig_08Es ist nicht leicht, Venedig so zu sehen, wie es früher einmal gewesen sein mag. Zu denjenigen, die das alte, echte Venedig entdeckt haben, gehören die Denkmalpfleger der „Scuola di San Pasquale“ im Sestiere Castello, angrenzend an die Kirche „San Francesca della Vigna“. Im Herbst 1977 wurde dieses „Europäische Ausbildungszentrum für Handwerker im Denkmalschutz“ mit Hilfe der Stiftung „Pro Venetia viva“ des Europarates eröffnet. Und seitdem ist schon so manches Erhaltenswerte erhalten worden. Behutsam, mit Geduld, nicht auf die Schnelle. Denn was hilft es, wenn es Zementträger in ein altes Ziegelgemäuer als Stütze eingepasst wird, und bald darauf bricht links und rechts die Mauer ab?! Was nützt ein taubenabweisendes Mittel für Skulpturen, wenn es den Stein schon kurze Zeit später zerfrisst?! Was ist von Silokonpräparaten für Marmorplatten zu halten, wenn sie nach Monaten ganze Schichten abplatzen lassen?!

Venedig_01Denkmalpflege ist eine langwierige und daher kostspielige Angelegenheit. Doch damit ist es nicht getan, soll Venedig am Leben erhalten werden. Die sechs Milliarden Mark eines UNO-Programms, die innerhalb von zehn Jahren in die Lagunenstadt fließen, gelten daher auch nicht allein der Instandhaltung öffentlicher Gebäude wie dem Markus-Dom (Bischofssitz) mit seinem Prunk und seinen Kunstschätzen, in dessen Innerem sich der Mosaikboden wellt wie die Meeresoberfläche. Das Geld dient vielmehr auch dem Bau der Kanalisation und der Regulierung der Kanäle.

Gebäude, die sich in Privatbesitz befinden, sind von diesem Programm ausgenommen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der „Ein-Tages-Besu-cher“ Venedigs von dieser Rettungsaktion der UNO kaum etwas bemerkt. Denn die privaten Hausbesitzer, die für die Instandsetzung selbst aufkommen müssten, verzichten nicht zuletzt deshalb darauf, weil der kommunistische Magistrat der Stadt den Mietpreis einheitlich nach der Quadratmeterzahl, nicht aber nach der Wohnqualität festgesetzt hat. Ergebnis: Die Zahl der Slumwohnungen steigt weiter; es fehlt an guten und billigen Wohnungen, und eine Eigentumswohnung kann sich nur kaufen, wer eine halbe Million Mark oder mehr auszugeben hat.
Venedig_09Findigkeit bewies da jener Venezianer, der seinen alten Palazzo einem britischen Reiseunternehmen als Haltepunkt bei „Sightseeing Tours“ anbot. Seitdem finden in dem 600 Jahre alten Gebäude regelmäßig Teestunden nach britischer Manier statt. – Ein kleines Beispiel dafür, dass nicht allein Milliarden Venedig retten können – ein großer Teil des Geldes bleibt ohnehin im Kompetenzwirrwarr der Behörden auf Eis liegen -, sondern vieles auf die Eigeninitiative der Venezianer ankommt. Urban im Sinne von Le Corbusier wird Venedig wohl niemals werden? Doch schließlich ist das „Museum Venedig“ einzigartig genug.

Und immer noch werden neue Schätze entdeckt. In der Taufkapelle von San Marco zum Beispiel können Touristen heute einen Altarblock sehen, der erst vor kurzer Zeit dort im Boden gefunden wurde. Und Elektriker entdeckten kürzlich, als sie im Durchgang vom Dogenpalast zur Markus-Kirche eine Leitung verlegen wollten, unter Mosaiken ein Fresko ca. aus dem 10. Jahrhundert. Wer also glaubt, als Bustourist von Kärnten aus oder als Camper vom Lido di Jesolo Venedig einmal und damit erschöpfend besucht zu haben, irrt. Auf ihre Weise lebt die Lagunenstadt auch heute noch aus den Schätzen ihrer Vergangenheit.