So heilsam kann ein Wartezimmer sein

Über ein „bedrückendes“ Erlebnis mit „Happyend“

Sie kennen doch sicher die Geschichte vorn Überzieher, jenem vielbesungenen Palleteau, der von seinem stolzen Besitzer in einem Lokal aus Angst vor Diebstahl auch dann nicht aus den Augen gelassen wird, als ein heftiges Rumoren im Magen (oder noch etwas tiefer) nach einem stillen Örtchen ruft. Und bestimmt wissen sie auch, wie die Sache ausgeht: Der Mantel ist weg und das Malheur passiert. Mir fiel die Geschichte wieder ein, als ich diese Woche hörte, was einem Gütersloher beim Arzt passiert ist. Aber lassen wir den Darmgeschädigten selbst erzählen.
8.30. Zwischen Toilette und Frühstück klingel ich noch schnell den Hausarzt an, weil sich das Verdaute weiter verflüssigt hat. Und dies trotz der verschriebenen Tabletten. Am anderen Ende der Leitung schaltet sich jedoch nicht die Sprechstundenhilfe, sondern der Anrufbeantworter ein: „Die Praxis ist bis. .. geschlossen. Bitte wenden Sie sich an die Vertretungsärzte … !“ A
ber welchen nehmen? Also erst einmal ins Büro, die Kollegen fragen. Einer rät, „nimmt doch den .. . Der hat seine Praxis ganz in der Nähe!“ 11.10 Uhr. Anruf Nummer 2. Wenn ich schnell käme und auch nur wegen eines Rezeptes, dann mache sie noch auf, sagt die Sprechstundenhilfe. Denn „normalerweise“ sei um diese Zeit schon geschlossen. Also nichts wie hin. Klingeln, Türsummer, ein leeres Wartezimmer, eine Tür mit der Aufschrift „Eintritt nur nach Aufforderung“. Ich klopfe, warte, nichts rührt sich. Also marsch ins Wartezimmer. Hinsetzen. Blick in die Tageszeitung, die auf dem Tisch liegt. Steht wie üblich nichts drin. Fünfzehn Minuten vergehen. Eine Patientin verläßt das Zimmer (Eintritt nur nach Aufforderung), murmelt ein „Hoffentlich erwische ich den Bus noch“ und ist weg.
Zehn weitere Minuten vergehen. Im Magen rumort und gluckert es. Wo ist hier die Toilette? Aber wenn ich jetzt dorthin verschwinde, werde ich wohlmöglich aufgerufen. Es hilft nichts: Sitzenbleiben ! Aufatmen, als sich die bewußte Tür öffnet. Doch es ist noch einmal eine Patientin. Ihrem erstaunten Blick auf mich folgt die Bemerkung „Ach, Sie kommen auch noch dran?“ Ich werde stutzig, fasse Mut und klopfe erneut an „Eintritt nur nach Aufforderung. Und diesmal bleibt sie nicht aus. Drei junge Damen blicken mich neugierig an. 4ch habe gerade angerufen, wegen des Rezeptes, Sie wi , ssen schon … !“ Eine der Damen weiß. Und bittet mich, im Wartezimmer noch etwas zu warten. Ich würde aufgerufen. Muss ein vielbeschäftigter Arzt sein, überlege ich, ins Wartezimmer zurückgekehrt. Hat offenbar zwei Wartezimmer. Eines für die Kassenpatienten und eines für die Privatpatienten. Bin wahrscheinlich im für mich falschen, dem der „Privaten“ gelandet. Komme wahrscheinlich erst dran, wenn im anderen Zimmer niemand mehr ist.
Derweil hat sich die steife Brise im Kanalisationssystem zu einem Sturm mit Windstärke 10 entwickelt. Wo war doch noch gleich „00“? Aber lange kann es ja nicht mehr dauern. Also noch ein Blick ins Lokalblatt wegen seiner allgemein beruhigenden Wirkung. Das Licht der fünfarmigen Schalenleuchte unter der Decke ist angenehm gelb, draußen hat Sonnenschein einen Regenguss abgelöst, das Rückenteil des Sessels lockt in Genickhöhe. Die Beine strecken sich fast von allein aus. Worauf prompt die Sturmböen abflauen. Noch ein kurzer Gedanke an die Kollegen und das Versprechen „Hole nur mal schnell ein Rezept. Bin gleich zurück“, da fallen auch schon die Augen zu, verlangt die Feier vom Vorabend nach einer zusätzlichen Mütze Schlaf.
Es wird zwar nur ein Dösen. Aber immerhin. Was sind noch Zeit und Raum, wenn der Sessel bequem ist, die Zimmertemperatur stimmt und es im Innern nur noch leise plätschert. Jäh unterbricht die Stimme eines Mannes an der Tür der kurzen (?) Schlimmer. „Ach, da sitzt ja noch einer. Was hat er denn!“ Er, das bin wohl ich. Und ich lese mit Erstaunen vom Zifferblatt meiner Uhr. „12.55“ ab. „Na, dann mal schnell mit ihm ins Sprechzimmer!“ Die drei jungen Damen blicken erstaunt auf. „Ja richtig“, sagt die eine, die noch vor mehr als einer Stunde Bescheid wusste, ,Ja richtig, Sie haben wir wohl vergessen!“
Da kann einen doch der Schlag treffen. Sich vorzustellen, wie leicht steife Brise und später Sturmböen durch einen kleinen Gang über den Flur hätten zum Schweigen gebracht werden können, weil jemand, der vergessen worden ist, auch nicht durch den Ruf „Der Nächste bitte“ an dringenden Geschäften gehindert werden kann.
Wie die Geschichte ausgegangen ist, wollen Sie wissen? Jedenfalls ohne Malheur, wenn man davon absieht, dass die Apotheke die verschriebene Arznei nicht vorrätig hatte, die der Patient samt seiner inneren Streithähne noch kurz vor der Mittagspause mit hängender Zunge erreicht hatte.
Also Warten bis 15 Uhr. Zurück ins Büro, ein kurzes „Ich bin wieder da“ und flugs einmal um die Ecke zwecks langersehnter Erlösung. Doch welches Wunder: Still ruhte der See. Flaute, nichts als Flaute. Was nur der heilsamen Wirkung eines leeren Wartezimmers zuzuschreiben ist!

Gütersloh 1979