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1979Gran Canaria, Insel des ewigen Sommers
April 1979: Der Linienbus brauchte vom Busbahnhof „Bravo Murillo« in Las Palmas bis zur kleinen Bucht »Playa de Tauro« im Süden fast zwei Stunden. Eine abwechslungsreiche Fahrt entlang der Küste auf einer anfangs geraden, gut ausgebauten Straße durch leicht hügeliges Gelände. Später dann, hinter den Touristensilos von Playa del Ingles und Maspalomas, ist vor jeder Kurve auf schmaler Straße Hupen Pflicht, denn linker Hand fällt die Küste steil zum teilweise mehr als 100 Meter tiefer gelegenen Meer ab. Was den Busfahrer aber offenbar nicht bewegen kann, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Ich bin deshalb fast ein wenig erleichtert, als auf dieser »Berg- und Tal-Bahn« von Bergkegel zu Bergkegel, Bucht zu Bucht nach der hundertundelften Kurve am Straßenrand ein Schild auftaucht, nach dem ich schon lange Ausschau gehalten hatte: »Camping Guantanamo«. Der Busfahrer bremst abrupt: „Playa de Tauro“
Im Fremdenverkehrsbüro am Park de Santa Catalina in Las Palmas hatte mir ein freundlicher älterer Herr diese Adresse genannt auf die Frage, wo auf Gran Canaria man denn Camping machen könne. Dem Reiseführer hatte ich diese Anschrift nicht entnehmen können, dafür drei andere – von denen man im Fremdenverkehrsbüro allerdings nichts wusste. So stand ich denn in der Hitze einer an deutschen Hochsommer erinnernden April-Sonne etwas verloren am Straßenrand, als der Bus davongefahren war. Ein Blick in die Runde: Schroffes, kahles Gestein, Mauern beiderseits der Straße, ein paar Sträucher, ein Tor, das Meer ist nicht zu sehen. Hier soll man es monatelang aushalten können?
Erster Gang durch die Campinganlage: Die hinter Bretterzäunen versteckten Hütten (dazwischen gelegentlich ein mit Matten verkleideter Wohnwagen, der seit Jahren keine Straße mehr gesehen hat) wirken unbewohnt: Es ist Siesta-Zeit! Nur auf dem Platz am Eingang finden sich einige Camper, darunter zwei junge Deutsche aus Rheda-Wiedenbrück auf einem Drei-Monate-Trip durch den Mittelmeerraum und Nordafrika. Marokko haben sie schon hinter sich, und vom Campingplatz Guantanamo aus erkunden sie nun mit ihrem Ford Caravan die Insel. Ist dies hier tatsächlich der einzige gemeldete Campingplatz auf Gran Canaria? Auch die beiden Camper kennen keinen anderen, berichten jedoch von »wilden« Plätzen an der Südküste kurz hinter Maspalomas, wo die spanische Polizei seit einiger Zeit Nudisten geflissentlich übersieht. Diesen Plätzen hätten sie jedoch »Guantanamo« wegen der sanitären Anlagen vorgezogen. Der Campingplatz gehört zwar nur zur dritten Kategorie, doch wo die Alternative fehlt, wirken seine Duschen und Toiletten, zumal sie funktionieren und sauber sind, wie Luxus. Auch Waschbecken für die schmutzige Wäsche sind vorhanden, auf dem zum Felsenstrand hin gelegenen alten Campingplatz wie auf dem vor drei Jahren jenseits der Straße nach Mogan angelegten und ummauerten Teil.
Gerda Hahn aber wäscht dennoch lieber wie vor vierzig Jahren, als sie mit ihrem Mann im Bayerischen Wald zeltete, in einem kleinen Plastikbehälter direkt neben dem Wohnmobil. Hermann und Gerda Hahn aus Solingen haben ihren Mercedes 206 D in einer Ecke des neuen Platzes abgestellt. Dort stand der Wagen bereits ein Jahr zuvor, und das voraufge-gangene Jahr, und . . . Kurz: Das Rentner-Ehepaar – Hermann Hahn ist 72 Jahre alt – verbringt seit nunmehr sechs Jahren Herbst, Winter und Frühling auf Gran Canaria. Diesmal von September bis Juni. Ein Fährschiff brachte sie von Cadiz aus für alles in allem 13000 Peseten auf die Insel. »Ein solcher Preis lohnt sich natürlich nur bei einem längeren Aufenthalt«, sagt der Solinger. Er zählt sich zur Altherren-Garde der Camper, weil er schon in jungen Jahren mit dem Faltboot unterwegs war, und meint, die „jungen Leute von heute – verstünden nichts mehr von der Natur und ihren Schönheiten. Konsequent führen die beiden Rentner auf »Guantanamo“ ein Einsiedlerleben.
Hermann Hahns erster Satz, als ich mich vorgestellt und erklärt habe, das ich für das Motorcaravan-Journal schreibe: »Nein danke, wir möchten nicht!« Was er nicht wollte, blieb ungesagt. Doch das sollte wohl heißen: »Wir wollen in Ruhe gelassen werden!« Wenige Minuten später allerdings plauderte der 72jährige bereits munter von alten Zeiten, davon, dass sie vor sechs Jahren erstmals zur Bucht von Tauro gekommen und drei Jahre später auf den neuen Teil des Platzes übergewechselt seien, als Platzwart dort noch mühsam Sträucher und Bäume in Kübeln großzog, die heute beireits – gut gewachsen – angennehm kühlen Schatten spenden. »Der einzige Camper sein und bleiben zu können, ja, das wäre schön«, sagte Hermann Hahn. Und die zurückliegen Weihnachtstage auf dem Campingplatz seien furchtbar gewesen, verrät der Einsamkeitsfanatiker. Denn „Holländer, Deutsche und Kanadier sind wie die Heuschreckeneingefallen. Ein Glück, dass wir jetzt wieder unsere Ruhe ben“.
Auch von den jungen Deutschen jenseits der Straße will das Solinger Ehepaar nichts wissen, erst recht nicht von den beiden Lokalen am Strand, wo in einem die Wirtin gelegentlich zu später Stunde auf der Tischplatte Flamenco tanzt – ausgerechnet zu alten Beatles-Platten. Und auch nach Las Palmas, der Hauptstadt der Insel, zieht das Rentner-Ehepaar nichts. Dorthin fährt es höchstens einmal in zwei Wochen. zum Einkaufen (weil´s dort billige ist als in den Touristenläden in Playa del Ingles), und um die Wagenbatterie aufzuladen, die abends das Licht für die „Wohnzimmerlampen“ liefern muss.
So besteht denn der Lebensraum von Gerda und Herman Hahn von September bis Juli aus einem kleinen Fleckchen Erde, eingerahmt von Wohnmobil, Sträuchern und zwei Mauern. Gerade Platz genug für einen Tisch, zwei Stühle und den Käfig des Kanarienvogels, der aus Deutschland mitgereist ist. Die Hahns sind’s zufrieden – genügsam, wie sie sind. Zwölf Jahre lang reisten sie mit einem VW-Bus durch die Lande. Meist nach Marokko. Hermann Hahn: „Wir kamen nach Gran Canaria, weil sich in Marokko immer häufiger bettelnde Kinder auf die Straße stellten und mit Steinen nach dem Wagen warfen, wenn sie nichts bekamen.“
Ihren schönsten Urlaub erlebte das Ehepaar jedoch weder in Marokko noch auf Gran Canaria. Der schönste Urlaub, ja, der sei 1939 am Fluss Regen im Bayerischen Wald gewesen, erinnert sich der 72jährige. Auf einer Wiese hätten sie damals gezeltet, die erst noch ein Campingplatz hätte werden sollen, und auf der morgens Rehe und Hasen gegrast hätten. „Auf so einem Platz noch einmal der erste Camper sein“, ist Hermann Hahns Wunschtraum.
Der kleine Platz am Neckar, auf dem das Ehepaar einen Stellplatz für sechs Wochen im Sommer gemietet hat (die Wohnung in Solingen ist nur Zwischenstation) kommt diesem alten Traum von deutscher Idylle noch am nächsten. Upnd deshalb will der 72jährige den Namen des Platzes auch nicht verraten.
Überflüssig erscheint da die Frage, was das Solinger Ehepaar an Gran Canaria liebt. Es ist nicht die laute Hektik der Hafenmetropole, es ist nicht das Hotel-Labyrinth von Playa del Ingles, es sind vielmehr die Schönheiten einer fast unberührten Natur, wie sie sich auch heute noch im Landesinneren entdecken lassen. Der luxuriöse Golfplatz in Maspalomas konnte ihn nicht locken, nicht die Windhundrennen in Las Palmas und nicht das Hochseefischen von Puerto Rico aus. Dafür aber kennt Hermann Hahn inzwischen jeden malerischen Flecken der Insel, von den Bananenplantagen bei Arucas im Norden bis zu den Aussichtspunkten an der Steilküste von Mogan im Süden. „Gran Canaria hat viele Gesichter«, sagt der Solinger.
Die Kanarischen Inseln vor der marokkanischen Küste, dreimal so groß wie das Saarland, 7273 Quadratkilometer, verteilt auf fünfzehn Inseln, von denen sieben ständig bewohnt sind , haben ihre Entstehung allesamt Vulkanen zu verdanken. Badebuchten mit Sandstrand finden sich (deshalb) nur auf Gran Canaria, Fuerteventura und Lanzarote. Sand, der auf dem drei Kilometer langen Strand zwischen Playa del Ingles und Maspalomas an das Dünenmeer der Sahara erinnert. Der Wind, der im Sommer von dort kommt, der „Tiempo del sur«, ist bei Touristen wie Einheimischen gleichermaßen gefürchtet, lässt er doch das Thermometer auf mehr als fünfzig Grad klettern, zieht er im Süden von Gran Canaria auch noch den letzten Tropfen Feuchtigkeit aus dem steinigen Boden.
„Im vorigen Jahr“, erinnert sich Hermann Hahn, „ging im Süden ein Jahrhundertregen nieder. Auch bei uns an der Playa de Tauro kam von den Bergen soviel Wasser herunter, dass zwei Drittel des Sandstrandes glatt weggespült wurden!« Dort machen heute unförmige, von Algen besetzte Steine das Baden schier unmöglich. »Aber die Einheimischen tanzten damals dennoch vor Freude“, fährt der 72jährige fort. »Denn Trinkwasser ist das ewige Problem der Insel. Für die Touristen und die Grünanlagen der Ferienorte wird viel, für die Canarios selbst wird wenig getan!«
Dass es gerade nach Gran Canaria die meisten deutschen Touristen zieht, hat seinen guten Grund: Von allen kanarischen Inseln hat diese das ausgeglichenste Klima. Die Temperaturen im Januar: Tagsüber 21, nachts 14 Grad, Wasser 19 Grad. Die Sommertemperaturen liegen nur um fünf Grad darüber, den »Tiempo del sur“ selbstverständlich ausgenommen.
Gran Canaria, die »Insel des ewigen Frühlings«, der »blühende Garten Eden“, von dem Hermann und Gerda Hahn so schwärmen? Es stimmt, wenn man den sinkenden Grundwasserspiegel und hochentwickelte Bewässerungssysteme übersieht. Touristen tun dies gerne. Und auch das Solinger Rentner-Ehepaar, zum sechsten Mal auf der Insel, macht da keine Ausnahme. Die Natur steht bei Hermann und Gerda Hahn über allem anderen. Und die Natur, das heißt auf Gran Canaria Barrancos, tief in die Hänge der Vulkanberge eingeschnittene Trockenschluchten, heißt Drachenbäume und Dattelpalmen in der Küstenregion, heißt Papageienblumen, Weihnachtssterne, Eukalyptusbäume aus Australien und Hibiskus aus Ostasien, im Laufe von Jahrhunderten von Seefahrern mitgebracht und auf der Insel heimisch geworden.
Über all dem erhebt sich der zerklüftete Roque Nublo, eingebettet in eine Landschaft von großartiger Wildheit und Schönheit, die vom 1450 Meter hohen Cruz de Tejeda besonders eindrucksvoll erlebt werden kann. Im Dunst des Horizontes ist von hieraus auch der Pico de Teide auf der Nachbarinsel Teneriffa auszumachen, mit 3718 Metern der höchste Berggipfel der Inselgruppe. Die Hahns haben dies zum wiederholten Male erlebt. Sie waren im Tal von Agaete, einem im Zickzack verlaufenden ausgewaschenen Flusstal mit Bananenstauden, Kaffeesträuchern, Papayas, Avocados und Mais. Sie haben vorn 760 Meter hohen Vulkankegel de Bandama in einen von 200 Meter hohen schroffen Felsen umgebenen Krater mit einem Kilometer Durchmesser geblickt, wo ein Einsiedler einige Felder bearbeitet. Sie waren in der Bananenstadt Arucas mit ihrem verwunschen wirkenden kleinen Stadtpark und genossen vom nahen Vulkankegel aus den weiten Blick bis zur sechs Kilometer entfernten Küste und weiter bis nach Las Palmas und der Halbinsel Isletas.
Romantische Bilder wie diese erinnern daran, dass schon die Römer Gran Canaria die »Insel der Glückseligen“ nannten. Ureinwohner waren die Guanchen, möglicherweise Wandschen (Vandalen), eingewandert vor 5000 Jahren. Sie bestatteten ihre Toten als Mumien in Grotten, ihre Priesterinnen lebten in Höhlenklöstern, und erst 1495 – nach 93jährigem Kampf – unterwarf sich das Hirtenvolk endgültig den spanischen Eroberern. Diese gaben der Insel auch ih-ren Namen, abgeleitet vom lateinischen Canis (der Hund), wegen der vielen damals wild auf der Insel lebenden Hunde, an die noch heute Skulpturen auf dem Platz vor der Kathedrale (15. – 19. Jahrh.) in der Altstadt »Vegueta« von Las Palmas erinnern.
Auch dort sahen sich die Hahns um, bewunderten die alten Häuser mit ihren hölzernen Balkonen und stillen, schattigen Innenhöfen, besuchten die Casa de Colon, früher Sitz der Gouverneure, heute Museum mit Ausstellungsstücken aus der Zeit Kolumbus‘, Iießen sich im »kanarischen Dorf“ im Park Doramas von Folkloregruppen unterhalten (Sonntag morgens und Donnerstag nachmittags) und studierten im angrenzenden Kanarischen Museum Funde aus der Zeit der Guanchen, deren Höhlen sie zuvor bei Telde und Arteara besichtigt hatten.
Lange hielten es Hermann und Gerda Hahn in der 300 000 Einwohner zählenden Hauptstadt Las Palmas jedoch nicht. Der 2600 Meter lange, Badestrand Las Canteras konnte sie ebenso wenig reizen wie der Catalina-Park mitseinen vielen Straßencafés. Hermann Hahn heute, nach sechs Jahren Gran Canaria-Erfahrung: »Wenn wir jetzt von Guantanamo aus losfahren, dann nur noch ins Landesinnere, ins Ursprüngliche dieser Insel!« Und weil es dort immer wieder Neues zu sehen und zu erleben gibt, steht für die beiden Rentner aus Solingen auch schon fest: »Im Herbst kommen wir wieder – wenn die Gesundheit es zulässt!« Denn auch die „Insel des ewigen Frühlings« kennt das Alter.