Polnische (Camping-)Reise

1978:  Kennen Sie den Typ jenes eiligen Globetrotters, der „macht“? Er „macht“ Schottland in sechs Tagen, Spanien in einer Woche, ganz Skandinavien in vierzehn Tagen. Doch an Polen sollte er sich gar nicht erst versuchen. Denn in Polen geht es nicht ohne einen Exkurs in die Geschichte – dafür sorgen schon die polnischen Gesprächspartner.

polen2Ungewohnt sind auch Devisen-Schwarzmarkt, Warenengpässe (vom Wodka einmal abgesehen), der Handkuss für die Dame vor jedem Tanz, „Privatinitiativen“ nach westlichem Vorbild, Straßenzüge, die anhand von mehr als 200 Jahren alten Stadtansichten aus Ruinen wiedererstanden. Eine überwältigende Gastfreundschaft. Polen erwartet den Besucher aber auch mit seinen Mahnmalen für die Toten des Warschauer Ghettos und die polnischen Widerstandskämpfer. Kurz, Polen kann man nicht »machen«, Polen muss man fühlen.

Kurz hinter der Grenze überholt uns sportlich-rasant ein Alfa Romeo und bremst, kaum hat sich der Fahrer vor unseren Wagen gesetzt. Handzeichen des Beifahrers deuten an, wir sollten stoppen. Polizei in Zivil? Besser, wir halten an! » Das kann nur Polen-Neulingen passieren, sagt uns am Abend ein Deutscher auf dem Campingplatz von Posen. „Die Devisenhändler lauern an dieser Straße jedem deutschen Wagen auf“. Und auch unsere vermeindlichen Polizisten wollen statt der Wagenpapiere harte D-Mark sehen. Eine Mark zu 16 Zloty ist der offizielle Kurs. Vor allem in den größeren Städten Polens, wo der Schwarzmarkt mit Devisen floriert wie im Berlin der Inflationsjahre, wird jedoch – nahezu in aller Öffentlichkeit-1 zu 50 bis 1 zu 65getauscht. (Vorsicht bei Offerten, die darüber liegen.)

Besonders Pauschalreisende, die nicht wie Einzelreisende an den Pflichtumtausch von dreißig Mark pro Tag und Person gebunden sind, haben ein offenes Ohr für ein zwischen Marktständen geflüstertes „Du wollen tauschen?«, wenn nicht bereits der Reiseleiter auf einem Parkplatz die Geldgeschäfte 24 en gros erledigt hat. Denn auf diese Weise kostet eine Langspielplatte mit Chopin-Musik plötzlich nur noch eine Mark, eine gute Angelrute 7,50 Mark, ein bespannter Tennisschläger 19 Mark.

Es lohnt jedoch nicht, im ersten Überschwang allzu viel Geld umzutauschen. Denn die Preise sind zwar niedrig, das Warenangebot für westliche Verhältnisse aber auch sehr gering. Und fürs Benzin gibt es ohnehin Coupons bei der Einreise. Hinzu kommt, dass das begehrte Bernstein nur ausgeführt werden darf, wenn es legal in staatlichen Läden zum regulären Wechselkurs gekauft worden ist. (Wenn dennoch häufig Bernstein und Antiquitäten geschmuggelt werden, ist das nicht ohne Risiko; ein niederländischer Antiquitätenhändler verlor auf diese Weise einen Pkw-Anhänger nebst Ware im Wert von 6000 Mark.)

Polen ist ein armes Land, daran ist nicht zu deuteln. Man merkt es zuerst an den Straßen. Sie sind zwar durchweg gut, aber eben nur durchweg. Wer glaubt, sich mit seinem Wohnmobil oder Gespann an keine Geschwindigkeitsbegrenzung halten zu müssen oder lieber den entgegenkommenden Panje-Wagen betrachtet statt auf die Fahrbahn zu achten, kann Pech haben wie der Kamener Busunternehmer Rudi Krusche, dessen luftgefederter Hochbus während der vierzehnstündigen Fahrt von Dortmund nach Posen in einer Bodenwelle vorne aufschlug. Ergebnis: Ein platter Eisenträger am Chassis.

In Zeitungsberichten war von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes im Zusammenhang mit der Danziger Streikwelle vom August vorigen Jahres und den Auslandsschulden der Volksrepublik die Rede, die eine schwindelerregende Milliarden-Höhe erreicht haben. Der Polen-Reisende braucht jedoch solche Informationen nicht; er kann die Armut gar nicht übersehen. Und er wird verlegen, wenn wieder einmal bewundernde Blicke seinem Wohnmobil gelten. (»Das hab‘ ich gebraucht gekauft. Neu kann ich mir das auch nicht leisten!“)

Es sind diese Stunden in kleinem Kreis (wenn die Wodkaflasche kreist und Chlodnik serviert wird, eine pikante Suppe aus Sahne, Schnittlauch und anderen Kräutern), in denen der Pole richtig auftaut. Dann wird deutlich, welche Unzufriedenheit die Streiks des vergangenen Jahres ausgelöst hat. Unzufriedenheit über geringe Löhne, vor allem aber über die unzureichende Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs. »Versuchen Sie zum Beispiel mal Kleinwerkzeuge zu bekommen oder Nähgarn. Ohne Beziehungen ist da nichts zu machen«, sagte uns ein Arbeiter in der Hauptstadt.

Ein Produkt geht den Polen allerdings nie aus: Wodka und mit ihm ein Sortiment von mehr als hundert Schnapssorten. Zitat aus dem Reiseführer „Polen für Entdecker«: »Es ist bekannt und lässt sich nicht verheimlichen, dass die Polen sowohl bei der Herstellung als auch beim Konsum von Wodka Hervorragendes leisten.“ Gebrannt wird der Wodka größtenteils aus Kartoffeln. In einer offiziellen Broschüre für Ausländer heißt es stolz, beim Anbau von Kartoffeln liege Polen an zweiter Stelle in der Weltproduktion. Drum! Noch ein offenes Wort zum Verhältnis von Deutschen und Polen unter wirtschaftlichem Aspekt: Was im Nachkriegsdeutschland der Amerikaner mit seinem Kaugummi, ist heute der Bundesdeutsche in Polen. Und vielleicht ist es deshalb für deutsche Camper – wie früher für Amerikaner bei uns – ratsam, in Polen zurückhaltend aufzutreten und nicht allein, sondern in einer Gruppe zu reisen. Auf diese Weise können bei Einkäufen oder Besichtigungen Wohnmobile, Gespanne und Zelte immer unter Aufsicht bleiben. Damit nicht passiert, was eine deutsche Reisegruppe in Allenstein traf. Einen Tag vor ihrer Abreise nach Danzig war nachts in ihrem Omnibus eingebrochen worden. Den Pass des Busfahrers fanden Kinder zum Glück zwar am Morgen in einem nahen Teich, den Führerschein jedoch ebenso wenig wie dreißig Musikcassetten, sechs Paletten Dosenbier, Schnaps und eine Kameraausrüstung. Reiseleiter und Busfahrer verbrachten geschlagene fünf Stunden bei der Polizei, bis die Gruppe endlich weiterfahren durfte.

Auch unsere Reiseroute führte in die ehemaligen deutschen Ostgebiete und damit nach Allenstein. An Posen geht jedoch kein Weg vorbei. In der heute 530000 Einwohner zählenden Stadt, die von 1793 bis 1945 lediglich zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen polnisch war, beeindruckt der Alte Markt mit seinen in den Umrissen originalgetreu wieder aufgebauten Bürgerhäusern (wobei stilisierte Ornamente an den Fassaden statt nachzuahmen das Neue unterstreichen) und das hoch aufragende Rennaissance-Rathaus. Straßencafès laden zu einer Atempause ein.

Nächste Station: Thorn an der unteren Weichsel. 150 000 Einwohner, 1231 durch den deutschen Ritterorden gegründet. Auf dem Altstadtmarkt mit seinem gotischen Backstein-Rathaus herrscht reges Leben. Wir kaufen „Kathrinchen“, Lebkuchen, für die Thorn berühmt ist. In einem Gasthaus, wo gerade eine deutsche Touristengruppe »abgefüttert« wird, lassen wir uns etwas typisch Polnisches schmecken, Burszcz, Rote-Beete-Suppe. Dass wir uns der Gruppe später anschließen, als sie von einem heimischen Reiseführer durch die Stadt geführt wird, fällt gar nicht auf. Minutenlanger Halt gilt dem schmalen Haus, in dem 1473 der Astronom Nikolaus Kopernicus geboren wurde.

In Olsztyn, früher Allenstein, hören wir den Namen ein zweites Mal. In der Burg des deutschen Ritterordens, die, gut erhalten bezieungsweise restauriert, heute ein Museum beherbergt, war Kopernicus von 1516 bis 1521 Verwalter des Domkapitels. Heute ist Allenstein, 130 000 Einwohner zählend, Bischofssitz. Auch dort wieder Häuser mit spitzen Giebeln, die erst auf den zweiten Blick die behutsame Hand des Restaurators verraten.
Von Allenstein aus, so haben wir versprochen, wollen wir uns in der Heimat melden. Denn auf Postkarten sollten wir uns hier nicht verlassen, hatte man uns gesagt. Wer jedoch ein Telefongespräch in die Bundesrepublik führen will, muss mit einer Wartezeit von zehn bis vierzehn Stunden rechnen. Dagegen spricht, dass der Campingwart auf dem (empfehlenswerten) Platz in der Nähe des Novotel nachts schlafen will und die Telefonrechnung nur gegen Vorlage einer Quittung über offiziellen Geldumtausch bezahlt werden kann. Beides sind Gründe, die uns ein Telegramm vorziehen lassen. Das können wir bei der Post sofort aufgeben und mit »schwarz« getauschten Zloty bezahlen. Es erreicht den Empfänger, wie wir später hören, bereits nach drei Stunden.

Den größten Teil der deutschen Polen-Besucher zieht es in den Norden des Landes. „Für die meisten ist das eine Fahrt in die Vergangenheit, weil sie selbst oder ihre Eltern von dort stammen“, meint Wolfgang Menzel, den wir in Allenstein treffen. Die erste Polen-Reise hat der pädagogische Mitarbeiter des Evangelischen Männerwerks von Westfalen im Jahre 1978 organisiert, angeregt durch Kontakte zum Aussiedlerlager in Unna-Massen. Dies ist nun seine 6. Fahrt nach Polen, erstmals mit zwei Bussen und fast hundert Teilnehmern. Von den 45 Insassen eines Busses sind allein 22 Flüchtlinge oder Vertriebene, acht kennen Polen von ihrer Soldatenzeit her, 15 wollen Verwandte besuchen. Für 24 ist es die erste, für 12 die zweite und für acht die wiederholte Reise in dieses Land, für die sie im Pauschalarrangement für zehn Tage 560 Mark bezahlt haben, während kommerzielle Reiseunternehmen rund 1200 Mark verlangen.

Auf die Frage, wer in die alte Heimat zurückkehren wolle, wenn sich das Rad der Geschichte rückwärts drehen ließe, antworten zwölf der 45 mit Ja. Eine Antwort, in der sicherlich der Verlust der Heimat für Millionen von Ostpreußen, Pommern und Schlesiern das emotionale Element ist. Für die Kowalewskis, Schikowskis, Sontowskis, Dombrowskis, Banneschewskis und Pisowotzkis der „Männerarbeit«-Reisegruppe gilt diese Fahrt denn auch in erster Linie dem Wiedersehen mit den Stätten ihrer Jugend, während Reiseleiter Menzel darin mehr idealisierend als realistisch einen »Brückenschlag zum polnischen Volk« sieht.

Jener Grundschullehrer aus Gütersloh beispielsweise hatte mit „Brückenschlägen“ nicht viel im Sinn, als er die Reste des Tannenberg-Denkmals besichtigte und angesichts des Mahnmales für die Opfer des Warschauer Ghettos die Erläuterungen des polnischen Reiseführers als »zu einseitig« abtat und berichtete, aus dem Bus habe er mehrfach Fußgängern zugewinkt, „um ihre Reaktion zu Testen«. (Den Besuch von Hitlers »Wolfschanze«, dessen zur Hälfte nicht gesprengte Bunker mit bis zu zwölf Meter dicken Betonwänden heute der Käseproduktion dienen, hatte er da schon hinter sich.)

Anders dagegen Hedwig Schittko und Luise Müller. Vor vier Jahren besuchten die beiden Schwestern ihren Geburtsort Klenau im Kreis Braunsberg zum ersten Mal. Den Polen, die heute den elterlichen Hof bewirtschaften, bringen sie diesmal Textilien und Süßigkeiten mit, der Dorfjugend einen Fußball. Beim Kennen lernen vor vier Jahren fragte der polnische Bauer: „Sind Sie uns böse, dass wir jetzt Ihren Hof haben?« und erwähnte in einem Nebensatz, sie selbst seien von den Russen aus Wilna in Litauen vertrieben worden.

Ebenfalls zum zweiten Mal besucht Otto Sontowski, geboren 1924 in Seenwalde im Kreis Ortelsburg, die Polen, die heute den elterlichen Hof innehaben. 1977 kam er als einer der ersten westdeutschen Touristen ins Land. Damals fragte ihn die Bäuerin, wo er denn schlafen wolle. »Bei Deutschen in der Nachbarschaft.« – „Aber wollen Sie denn nicht in ihrem eigenen Bett schlafen?«, war die Rückfrage. Diesmal bleibt Otto Sontowski zwei Nächte und nimmt als Dank für die Textilien, die er mitgebracht hat, ein Kilogramm getrockneter Pilze mit, für die er in Warschau 2000 Zloty gleich ein Drittel eines polnischen Monatsverdienstes hätte bezahlen müssen.
„Wie sehen die Häuser aus, die früher uns gehörten? Wer wohnt dort jetzt? Was denkt er von uns?“ Die ersten Kontakte werden meist recht vorsichtig geknüpft. Doch sehr schnell überbrückt die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Polen jede Scheu. Das stellten auch Heinz und Brunhilde Boldt aus Münster fest, die in Allenstein das Zweifamilienhaus ihrer Eltern suchten und fanden. Grund und Boden gehört heute dem Staat, die beiden Wohnungen den Bewohnern. Und die Aufnahme in beiden Familien ist herzlich. Auch für Liselotte Plendl aus Dortmund. Vor vier Jahren fuhr ihr Bruder zum ersten Mal nach Polen, um in Braunsberg das Elternhaus zu sehen. Vor zwei Jahren schloss sie sich ihm an. Und diesmal kommt sie allein, Süßigkeiten, Kaffee und Kleidung als Mitbringsel im Reisegepäck. Es klingt ungewollt ein wenig überheblich, wenn sie sagt, die polnische Familie sei stolz, die einzige in der ganzen Straße zu sein, die Besuch aus der Bundesrepublik bekomme. Doch diese Erfahrung machen Bundesbürger allenthalben.

So auch Erwin Kowalewski aus Priom im Kreis Neidenburg, heute wohnhaft in Langenberg/Rheinland. Auf der Straße trifft er in seinem Geburtsort zufällig zwei Schulkameraden wieder. Sie fallen ihm vor Freude um den Hals. Und ebenso herzlich war, wie er bereitwillig erzählt, der Empfang auf dem Bauernhof in Posen, wo er als Kriegsgefangener gearbeitet hatte. Ein Wermutstropfen: Der alte, verfallene Friedhof, auf dem er noch die Einfassungen der Gräber von Großeltern, Mutter und Bruder entdeckte, wird wohl bald verschwunden sein. Der Rand einer Kiesgrube rückt beständig näher.

Apropos Gastfreundschaft. Bei seiner ersten Polen-Reise machte Reiseleiter Wolfgang Menzel die Bekanntschaft einer Familie in Allenstein. Seitdem erwartet sie ihn bei jeder Fahrt, die über den Ort führt schon bei derAnkunft im Hotel. Und dann geht es ab nach Hause zu einem großen Fischessen und viel, viel Wodka, wie uns Menzel vorschwärmt. Liegt‘ s daran, dass die polnische Gastfreundschaft »abfärbt«? In Polen jedenfalls scheinen Deutsche untereinander weit weniger kontaktarm zu sein als in ihrer Heimat, zumal kaum jemand Wodka als „Färbemittel« ablehnt.

So zum Beispiel auf dem Thorner Campingplatz »Camp« an der Ulica Kujawska. Statt »Prost« heißt es nur, keiner weiß warum, »Vertragen wir uns wieder« und »Geburtstag feiern«. Und es gibt niemanden in der Gruppe, der sich im Nullkommanichts gefunden hat, der während unseres dreitägigen Aufenthaltes nicht »Geburtstag« hätte.

Nachgeahmt wird auf diese Weise ein Vorzug der Polen, der „nur schwer zu ertragen ist«, so nachzulesen in dem in Polen erschienenen, humorig geschriebenen Reiseführer »Polen für Entdecker«. Zitat: »Bei einem Polen zu Gast zu sein, kann einen Menschen moralisch und physisch restlos zerstören. Jeder Versuch, eine Speise, besonders aber ein Getränk zurückzuweisen, wird als persönliche Beleidigung des Gastgebers empfunden.«
Dabei ist die Herzlichkeit Ausländern gegenüber Ausdruck der Freude und des Nationalstolzes, dass Polen ihr Interesse gefunden hat … und gilt nicht unbedingt der deutschen Nationalität. Denn immerhin spielten die Deutschen in der bewegten, leidvollen Geschichte des Landes eine Hauptrolle.

Jahrhunderte lang veränderten sich die politischen Grenzen Polens, musste das Volk um seine staatliche Einheit kämpfen. Das begann schon mit dem Deutschen Ritterorden. 1226 hatte ihn Konrad von Masowien im Kampf gegen die Pruzzen zu Hilfe gerufen. Doch weil der Orden die Aufstände im Norden nicht nur niederschlug, sondern sich in Pomerellen auch »häuslich einrichtete«, Danzig besetzte und Polen von der Ostsee abriegelte, wurde er zum erbittersten Feind der Polen. (Ihren Sieg über den Ritterorden im Jahre 1410 in der Schlacht bei Grunwald feiern sie noch heute in einem Monumentalgemälde, das zu Hitlers Zeiten aus Furcht vor Zerstörung versteckt gehalten wurde und jetzt in Marienburg zu sehen ist.)

Vom 14. bis 16. Jahrhundert war das Königreich Polen in Personalunion mit Litauen eine Großmacht. Dann zerfiel die Zentralgealt, konnte sich der Adel nur noch auf Wahlkönige anderer Länder stützen, bis schließlich 1772, 1793 und 1795 Russland, Preußen und Österreich den Staat unter sich aufteilten und für mehr als hundert Jahre von der Landkarte verschwinden ließen.
Schon zu Zeiten des letzten polnischen Königs Stanislaw lag die Macht in den Händen des russischen Botschafters. Ein Aufstand scheiterte, dann wurde Warschau polnische Provinzstadt. Nach Napoleon kamen wieder die Russen (Warschau wurde 1815 die Hauptstadt des in Personalunion mit Russland verbundenen Kongresspolens.) Hauptstadt eines polnischen Staates wurde Warschau erst wieder 1919 und kapitulierte zwanzig Jahre später, Ende September 1939, nach einem Bombenangriff vor der deutschen Wehrmacht.

Der folgten gegen Kriegsende die Russen, zunächst als Befreier, dann aber auch als erneute Besetzer. Durch sie verlor Polen große Landtriche im Osten und wurde dafür auf der Potsdamer Konferenz mit den ehemaligen deutschen Ostgebieten Ostpommern, südliches Ostpreußen ohne Königsberg, Ostbrandenburg, Danzig und ganz Schlesien entschädigt. (Durch den Warschauer Vertrag 1970 erkannte die Bundesrepublik die Oder-Neisse-Grenze an.)
Kaum ein Pole, der nicht im Gespräch mit Westdeutschen auf diese wechselvolle Geschichte anspielt. Und ein Zitat von Jean Jacques Rousseau macht die Runde: »Wir werden nicht verhindern können, dass sie Euch verschlingen. Aber bemüht Euch zumindest, dass sie Euch nicht verdauen können!« 120 Jahre der Abhängigkeit von fremden Mächten haben die Polen so überstanden. Und der Reiseführer in Thorn wird zum Patrioten, wenn er zitiert: »Wir waren, wir sind, wir werden sein.“

1939 waren nur 68 Prozent aller polnischen Staatsbürger echte Polen. Nicht zuletzt aufgrund der Ausreise deutscher Spätaussiedler in die Bundesrepublik (allein 1977 waren es 33 000) sieht die Bevölkerungsstatistik heute anders aus: Von den 34,2 Millionen polnischen Staatsbürgern (1945 waren es 23,9 Millionen) bilden 180 000 Ukrainer und 165 000 Weißrussen nur eine Minderheit. (Und in Warschau soll der Name Kowalski gleich Schmidt rund 5000mal vorkommen.)

Von Allenstein aus ist ein Abstecher an die masurischen Seen einfach Pflicht, wenn auch bei den Campingplätzen ein Auge zugedrückt werden muss. Der polnische Campingführer weist zwar zwischen Leba an der Ostseeküste und Zakopane in der Tatra 225 Campingplätze aus, westdeutschen Ansprüchen können jedoch nur die der ersten Kategorie genügen, die sich meistens in der Nähe der größeren Städte finden. (Die sieben Warschauer Campingplätze gehören alle dieser Kategorie an.)

Weil freies Campieren verboten ist und nur dort stillschweigend geduldet wird, wo es keine Campingplätze gibt, nicht zuletzt aber auch wegen der relativen Sicherheit, die ein Campingplatz nachts vermittelt, gehört der Campingführer ins Reisegepäck. Und mit ihm ein erprobter Wasserfilter. Denn die Trinkwasserqualität lässt auf vielen polnischen Campingplätzen zu wünschen übrig. Dafür entschädigt dann eine Schiffsfahrt über die durch Kanäle verbundenen masurischen Seen, an deren schilfbewachsenen Ufern Graureiher, Wildenten, Trauerschwäne und Wildgänse auszumachen sind.

»Welche touristischen Entwicklungsmöglichkeiten«, hat beim Anblick dieser Landschaft sicherlich schon so mancher deutsche Touristikfachmann geschwärmt. Und das wissen auch die Polen. Der jährlich steigenden Zahl ausländischer Touristen und der großen Reiselust der eigenen Landsleute sind ihre Hotelplaner jedoch nichtgewachsen. Das kann sich im Kleinen zeigen bei einer Bestellung nach Bier, wenn die Antwort der Serviererin ein kurzes „Nema« ist, »gibt’s nicht«. Und das zeigt sich im Großen, wenn Reisegruppen geschlossen von einem Hotel in ein anderes verwiesen werden, weil die Hotelzentrale in Warschau wieder einmal bei den Reservierungen nicht mitgezählt hat. So jedenfalls klagt uns ein Reiseführer aus Rastenburg sein Leid, den wir während einer Schiffstour auf dem Mauersee kennen lernen, der mit 102 Quadratkilometern der zweitgrößte See in Masuren und ein Paradies für Angler ist. (»Privatinitiative« ließ auch viele Polen zu Petrijüngern werden.)

Danzig, heute Gdansk, ist unsere nächste Station. Dass dort die Außenaufnahmen für die Fernsehverfilmung von Thomas Manns „Die Buddenbrooks« gedreht worden sind, erkennen wir erst, als wir die prächtigen Bürgerhäuser der Marienstraße sehen mit ihren eleganten Treppenaufgängen und Steinfiguren, im Hintergrund die gotische Marienkirche. Kühl vor-nehm wirkende Häuserfronten der Rennaissance erwarten uns auch auf der Ulica Dluga (Lange Straße), der geschäftlichen Hauptachse der Stadt, die vom Goldenen Tor vorbei am Rechtstädter Rathaus mit seinem 82 Meter hohen Glockenturm zum Langen Markt, dem Neptun-Brunnen und schließlich zu jener Straße am Kai führt, die vom eigentlichen Wahrzeichen Danzigs überragt wird, dem Kran-or aus dem 15. Jahrhundert. Es ist ebenso wie die vielen Häuser der Altstadt nach dem Kriege mit erheblichem Aufwand originalgetreu wieder aufgebaut worden.

Nach einem Orgelkonzert im Dom zu Oliwa erreichen wir 58 Kilometer südöstlich auf schmalen Straßen Marienburg (Marbork) in der ehemaligen Provinz Ostpreußen. (1772 bei der ersten polnischen Teilung war die Stadt nach Preußen gefallen.) Gegründet wurde Marienburg 1272 als Komturschloss des Deutschen Ritterordens. Von 1309 bis 1457 war die stolze Wehranlage die Residenz des Hochmeisters. Im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört, wurde sie nach 1945 mit viel Liebe zum Detail wieder aufgebaut und beherbergt heute reichhaltige Waffen-, Münz- und Bernstein- Sammlungen, Porzellan und Glas. ((Für Ankömmlinge aus Richtung Danzig: Zum Fotografieren (Panorama) findet sich kein besserer Standort als der kurz vor der Brücke über den Fluß Nogat.)) Zu uns, den Besuchern von Marbork, gehören an diesem Tag auch Alice Kaiser und Klara Rapillus. Die eine findet auf Anhieb ihr Vaterhaus wieder und den Baum, auf den sie als Kind geklettert ist. „Der Pole, der dort wohnt, begrüßte mich mit Handkuss!“). Die andere sucht im nahen Carnawoda vergeblich den Baum, unter dem sie den ersten Kuss bekommen hat. Ihr Kommentar zu ihrer Heimat: »Das ist wohl die trübseligste Ecke von ganz Polen. Da will ich nie wieder hin!«- Verklärte Erinnerung ist der Wirklichkeit gewichen!

Von Marienburg bis Warschau – unterbrochen durch einen Abstecher nach Hohenstein (Olstynek) mit seinem sehenswerten Freilichtmuseum – »zieht sich die Strecke«, wie uns ein deutscher Busfahrer schon in Danzig sagte. Vor allem dann, wenn Gegenverkehr das Überholen von Pferdefuhrwerken häufig unmöglich macht. Als endlich in Warschau der Campingplatz (in einem Gewerbegebiet) erreicht ist, atmen wir auf. Die nächsten drei Tage (Minimum für einen Besuch der Stadt) hat unser Wohnmobil Ruhepause.

Die bei unserem Wechselkurs geradezu unwahrscheinlich niedrigen Taxipreise sind ein durch nichts zu schlagendes Argument für den Verzicht auf den eigenen fahrbaren Untersatz. Und so erkunden wir denn Polens Metropole mit ständig wechselnden „Reiseführern – am Steuer von Polski-Fiats oder der „Hausmarke“, einem „Polonez“.
Und freuen uns über jeden Fahrer, der ein wenig Deutsch spricht. Denn viele sind es nicht. Zur Besichtigung der Hauptsehenswürdigkeiten schließen wir uns daher – nach bewährtem Muster – größeren Reisegruppen an. Allein in Warschau geht die Zahl der Fremdenführer in die Hunderte. „Kein schlechter Job«, sagt uns der etwa Dreißigjährige mit dem Menjoubärtchen, den wir in einem Café kennen lernen. Von der polnischen Reiseorganisation Orbis erhält er pro Arbeitstag zwar nur hundert Zloty – das sind nach Schwarzmarktkurs umgerechnet 1,60 Mark. Trinkgelder (in Devisen) fließen jedoch reichlich. Nicht ohne Stolz verrät unser Gesprächspartner, davon könne er sich alle zwei Jahre leisten, wovon andere Polen nur träumten: Eine Reise ins westliche Ausland. Und eine Eigentumswohnung in Warschau habe er auch.

In die Bundesrepublik Deutschland möchten viele Polen. Nicht als Auswanderer, bewahre, als Touristen! Doch das ist nur möglich, wenn den staatlichen Stellen eine Einladung von Deutschen vorgelegt werden kann. Denn ohne diese wäre ein Auslandsaufenthalt nicht finanzierbar, da an der Grenze nur ein geringer Betrag an Zloty in Westdevisen umgetauscht werden darf. Aber zum Glück gibt es ja den schwarzen Markt … In welche Kanäle die Devisen ansonsten fließen, die von „fliegenden Händlern« in Haustürnischen und Toreinfahrten eingetauscht werden, ist nicht erkennbar. Ein offenes Geheimnis ist jedoch, dass es für Devisen zu kaufen gibt, was gegen Zloty selbst mit guten Worten nicht zu haben ist. Vermutet unsere Zufallsbekanntschaft im Caé auf unsere Frage: „Die Gemüsebauern rings um Warschau gehören zu den reichsten Leuten in Polen. Sie tauschen Zloty gegen Devisen ein und kaufen sich damit in der Hauptstadt Eigentumswohnungen!“ Nur ein Beispiel, gewiss. Das relativ hohe Einkommen der Gemüsebauern – Ergebnis des Verzichts auf generelle Verstaatlichung – ist jedoch nicht symptomatisch für alle polnischen Landwirte. Immerhin leben von den sechs Millionen in der Landwirtschaft tätigen Bauern noch fünf Millionen auf Höfen, die nur ihre eigene Existenz sichern, aber nicht mehr abwerfen.
Die private Landwirtschaft wird vom Staat nicht nur geduldet – ebenso wie private Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe -, sondern sogar gefördert. Dahinter steckt keine »kapitalistische Ideologie«, sondern die Notwendigkeit, Versorgungsengpässe zu beseitigen. Dieser volksdemokratische Alltag, für den auch der DDR-Witz gilt: „Jeans? Wir haben keine Hemden! Keine Jeans gibt’s nebenan!“, jener graue, entbehrungsreiche Alltag also, in dem es gerade die Waren nicht gibt, nach denen man sucht, zwingt zum Nebenverdienst. Und hier haben es die Polen zu wahrer Meisterschaft gebracht.
Wie anders ist es zu erklären, dass der Pole laut Statistik zwar nur 5000 Zloty im Monat verdient, aber 10 000 ausgibt?! Die Antwort darauf geben jene >“Interessengemeinschaften«, »Privatinitiativen“, zu denen in Polen auch 160.000 Handwerksbetriebe, 15.000 private Geschäftsleute und 33.000 Gastwirte zählen. (Die Adresse eines Schuhmachers in Warschau, der, gegen Devisen versteht sich, noch Schuhe nach Maß anfertigt, gilt dabei als Geheimtipp.)

Was »Nebenerwerb« auf polnisch auch heißen kann, erleben wir auf der Rückreise hinter Chopins Geburtsort Zelazowa Wola, als ur ein Polizist stoppt: Wir hatten den weißen Mittelstreifen überfahren. Weil wir die verlangten tausend Zloty nicht mehr besitzen (der Abend vorher in Warschau war lang geworden), gibt sich der Uniformierte auch mit Naturalien zufrieden: Drei Fläschchen Apfelkorn und drei Dosen Dortmunde Bier. Und Stunden später kassieren in dem Bus, der vor uns an die Grenzschranke gerollt ist, die Zöllner wie selbstverständlich nicht nur die Pässe ein, sondern auch vier Büchsen Bier. (Muß noch erwähnt werden, dass die Abfertigung dieser Reisegesellschaft zügig verlief?!)

Die Grenze haben wir noch vor uns, als wir im Café dem Warschauer Reiseführer gegenüber sitzen. Anspielend auf der Schwarzmarkt mit Devisen, wagen wir bei ihm leise Ironie: Also habe auch der Kommunismus kapitalistische Züge. Doch die Antwort stimmt nachdenklich: »Wo sehen Sie hier Kommunisten? Ich sehe nur Polen, die ihr Leben lebenswerter machen wollen!«
Geführt wurde dieses Gespräch in Deutsch. Denn unsere Café-Be kanntschaft zählt zur Nachkriegsgeneration, die langsam wieder Deutsch lernt, während viele ältere Polen es noch sprechen. „Russisch“, sagt der Reiseführer mit Unterton, »Russisch dagegen verstehe ich nur, spreche ich nicht“.
AItstadt und Geschäftsviertel Warschaus liegen am linker Ufer der Weichsel, das Wohnviertel Praga mit seinen kalt wirkender Hochhäusern, an denen der Putz abblättert, am rechten Ufer. Und doch ist gerade in Praga die Erinnerung an das Warschau des 19. Jahrhunderts mit seinen pittoresken Basaren besonders lebendig. Zumindest noch für kurze Zeit. Denn der Flohmarkt mit seinen Obstständen, seinen Einmachgläsern voller Pilze, seinen zwei Jahre alten amerikanischen Herrenmagazinen zwischen Klosettbürste und geräuchertem Lachs soll einem neuen Geschäftsviertel weichen. Wo werden dann die abgehärmt wirkenden Frauen ihre selbstgeschneiderten Kleider zum Verkauf anbieten können? Wo der Mann, der mitten im Gedränge eine kleine Puppe feilbietet, die seine einzige Ware zu sein scheint? „Privatinitiative« a la Polen, hier kann sie nicht mehr belächelt werden, hier ist sie bitterer Ernst.

So nachdenklich den Besucher diese auf dem Flohmarkt in Praga um ihre Existenz kämpfenden Warschauer stimmen, so betroffen machen ihn die Toten dieser Stadt. Wo sich heute der Stadtteil Muranow mit eintönig wirkenden Wohnblocks erhebt, begann im Dritten Reich der Marsch von Tausenden von Juden in die Konzentrationslager. Und an der Bilanz des Wahnsinns – 500.000 toten Juden – hatte auch der Aufstand im zwölf Quadratkilometer großen »Warschauer Ghetto« nichts ändern können: Ostern 1943 wurde das Ghetto auf Befehl Hitlers restlos in Schutt und Asche gelegt, auch der letzte noch lebende Jude deportiert.
An den Ghetto-Aufstand erinnert heute ein Mahnmal. Aus dem GestapokeIIer wurde ein Museum, dessen Ausstellungsstücke die Greueltaten erahnen lassen, die dort damals begangen worden sind.
Der Reiseführer, der die deutsche Gruppe, der wir uns angeschlossen haben, durch das Viertel führt, spricht jedoch nüchtern von dieser Zeit, nicht mit erhobenem Zeigefinger, ohne Polemik. „Nie wieder Krieg«, sagt einer der Zuhörer leise. Und er sagt es ein zweites Mal angesichts der »Warschauer Nike«, dem Standbild vor dem Opern- und Balletttheater, das zur Erinnerung an die polnischen Widerstandskämpfer errichtet worden ist. (Im Zweiten Weltkrieg starben sechs Millionen Polen; nur Russland hatte mit zwanzig Millionen noch größere Verluste.) Allein die Bilanz des 63tägigen Warschauer Volksaufstandes, der sich gegen die deutsche Besatzung richtete, aber auch aus Angst vor Okkupation durch die vorrückende sowjetische Armee entbrannte, ist erschreckend: 16 000 gefallene und 7000 schwer verwundete Soldaten sowie 150 000 erschossene oder verhungerte Zivilisten. (Mitten durch die Kathedrale verlief die Hauptkampflinie.) Wer will dem Reiseführer vorwerfen, dass er nur die polnischen Zahlen nennt? Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, wurde die Altstadt dem Erdboden gleichgemacht, das Schloss als Symbol des Polentums gesprengt. Beides war, betont der Reiseführer, völlig sinnlos. Denn in den Ruinen hätten ohnehin kaum noch Menschen gehaust.

Nach dem Kriege ein einziges Trümmerfeld, zählt Warschau heute wieder 1,6 Millionen Einwohner. Und eines macht diese Stadt für deutsche Besucher, die mit „Stadtsanierung“ nicht gleich „Abreißen, Hochhaus bauen“ verbinden, besonders interessant: Nirgendwo sonst auf der Weit wurden bisher ganze Straßenzüge mit größerer Liebe zum Detail rekonstruiert. Dem Krieg waren neunzig Prozent aller kunsthistorischen Denkmäler der Stadt zum Opfer gefallen. (Nur das Standbild des Kopernicus blieb erhalten, da die deutsche Besatzung ihn nicht als Polen betrachtete, weil er weitgehend in Deutsch geschrieben hatte.) Doch von diesem schweren Verlust ist heute nichts mehr zu spüren. Beginnend 1949 mit der Sigismundsäule auf dem Schlossplatz, die 1644 für Sigismund III. Wasa errichtet worden war, der Warzawa zur Hauptstadt gemacht hatte, erneuerten die traditionsbewussten Polen die St. Johannes-Kathedrale, die Marienkirche, vierzig Bürgerhäuser rund um den Marktplatz und die alten Festungsanlagen.

So kamen in die Altstadt wieder Wohnungen und kleine Geschäfte, wenn auch eine »Stammbevölkerung« nach dem Krieg erst wieder vom Lande in die menschenleere Stadt geholt werden musste. Ein französischer Journalist schrieb über diesen Wiederaufbau: »Diese Menschen können von keiner Kraft vernichtet werden. Sie sind wie Krokodile, deren abgeschnittene Gliedmaßen und ausgeschlagene Zähne wieder nachwachsen!« Die polnische Regierung ist da wesentlich nüchterner. In offiziellen Fakten über Polen heißt es: „Man ist sich dessen bewußt, dass Denkmäler eine äußerst wichtige Rolle im Leben der Gesellschaft spielen. Es kann keine nationale Tradition geben, die sich nicht auf ihre sichtbaren Merkmale, die Kulturdenkmäler, als einen Faktor berufen würde, der die Tradition unmittelbar mit der Gegenwart verbindet und der Geschichte Kontinuität verleiht!«
So wird verständlich, dass die Denkmalpflege sehr schnell zur Sache der gesamten polnischen Bevölkerung wurde. Beim Wiederaufbau der Warschauer Altstadt spielte jedoch auch das Glück eine Rolle. Hätten nicht 32 Städteansichten des Venezianer Künstlers Bernardo Belotto gen. Canaletto, der in Warschau dreizehn Jahre bis zu seinem Tode im Jahre 1780 gelebt und gearbeitet hat, die Kriegswirren überdauert, hätten die polnischen Restaurateure nur halbe Sache machen können. Nur dank dieser Zeichnungen war es möglich, beispielsweise ein Eckhaus nahe der Zygmuntsäule so wieder erstehen zu lassen, wie es vor 200 Jahren ausgesehen hat. So entstand ein Gebäude, das mit dem nicht mehr viel gemeinsam hat, das im Kriege in Trümmer fiel. Auf die gleiche Weise bekam die Kathedrale ihre ursprüngliche go-tische Form zurück.
„Und dennoch Warschau« stand als Losung über dieser einmalig dastehenden Leistung auf dem Gebiet der Rekonstruktion, die vom Wiederaufbau des 1944 zerstörten Schlosses gekrönt wurde. 1971 wurde der Wiederaufbau beschlossen, sieben Jahre später stand das Schloss wieder. Es war ebenso wie die Häuser der Altstadt in seinem ursprünglichen Baustil errichtet worden. In Zukunft wird es ein Museum beherbergen, für das Regierungen vieler Länder, in erheblichem Maße auch die Bundesrepublik Deutschland, Kunstgegenstände (polnischer Herkunft) beigesteuert haben.

Wie gelungen der Wiederaufbau der Altstadt ist, zeigt sich besonders deutlich am Alten Markt mit seinen Patrizierhäusern im Stile des Barocks und der Rennaissance mit ihren treppenartigen, mit goldenen Ornamenten geschmückten Giebeln. Im Vorbeigehen schnappen wir auf, wie eine Reiseführerin einer englischen Gruppe erklärt: »Es gibt Hauptstädte, die mehr Sehenswürdigkeiten zu bieten haben als Warschau. Weiche Altstadt aber scheint in ihrer Gesamtheit so original aus dem 16. Jahrhundert zu stammen wie diese?!«

Und wirklich, sogar die Kellnerin-nen im berühmten Café „Krokodil« an der Ecke scheinen in ihrer die Weiblichkeit betonenden Tracht -langer grüner Rock und bestickte Bluse – aus der „guten alten Zeit« zu kommen. (Der Name »Krokodil“ ist übrigens älter als jenes ausgestopfte Exemplar, das der kubanische Staatspräsident Fidel Castro vor Jahren als Gastgeschenk mitbrachte und das heute in dem Lokal nahe dem Treppenaufgang hängt.)
Was der Alte Markt mit dem „Krokodil« für Touristen am Tage, ist der »Kulturpalast« mit seinem Varieteprogramm bei Nacht. Was das 240 Meter hohe Gebäude sonst noch alles beherbergt, können wir keinem einzigen unserer Taxifahrer entlocken. Das „Geschenk der Russen« wird gegenüber Besuchern aus dem Westen allgemein totgeschwiegen. Ein Witz aus dem Volke: „Warum fehlen rings um den Kulturpalast mit seinen 35 Fahrstühlen und 3288 öffentlichen Räumen, darunter vier einem Museum, dreizehn Hörsälen und einem Schwimmbad mit Tribüne für 500 Personen, warum also fehlen ringsum die Bäume?“ Antwort: »Um rechtzeitig die Attentäter entdecken zu können, die Stalins Geschenk in die Luft jagen wollen!«

Dabei hat Warschau ansonsten Bäume im Überfluss, kann ohne Übertreibung eine Stadt der Parks genannt werden. Den Lazienki-Park – mit dem »Theater auf der lnsel« und dem 1945 in Brand gesetzten und wiederaufgebauten Palais Lazienki zu den Kunstschätzen von Weltrang zählend – erleben wir an einem trüben Regentag. Doch das passt so recht zu dem Chopin-Denkmal, einem Modell des verlorengegangenen Originals nachgegossen, das dort im Park Chopin unter einer sturmgepeitschten Weide zeigt. Zu Hitlers Zeiten durften seine Klavierwerke in Polen nicht gespielt werden, jene Mazurkas und Polonaisen, die – bald romantisch-wehmütig, bald voller Dynamik – die polnische Seele widerspiegeln. Und auch wir spüren den Pulsschlag dieses von Patriotismus und dem Willen zum Überdauern geprägten Volkes, während wir das Land bereisen, in der Hauptstadt Warzawa mit ihren 15 Hochschulen und 74 000 Studenten, 19 Theatern und 26 Museen lebhaft pochend, auf dem Lande dagegen gemächlich. Überall jedoch mit einer Portion österreichischen Charmes (»Küss die Hand, ´gnä‘ Frau« vor jedem Tanz). Die Erinnerung daran wird stets wieder lebendig, wenn wir die mitgebrachten Schallplatten des Tanz- und Gesangsensembles „Masowsze« spielen. Und immer aufs Neue haben wir dabei das Gefühl, ein Land und seine Menschen besser verstehen gelernt zu haben auf unserer Reise, auch wenn sie uns damals zu kurz erschien.

Auch dies gehörte im Jahre 1978 zu diesem Reisebericht:
Einreise: Bundesbürger benötigen gültigen Reisepass und ein Visum, zu beantragen bei der polnischen Botschaft.
Autofahrer: internationaler Führerschein, Zulassung, Nationalkennzeichen am Wagen. grüne Versicherungskarte.
Währung: Ein- und Ausfuhr der Landeswährung Zloty ist verboten. Deklaration von Fremdwährung an der Grenze. Pflichtumtausch pro Tag und Person 30 Mark für Campingtouristen zwischen dem 1. Mai. und 30. September 15 Mark.
Camping: 130 Campingplätze.
Auskünfte: Polnischer Camping-Verband (PFC), Ulica Krakowskie-Przemienscie 42-44, Warszawa.