Nahkampf auf dem Parkett

Über den Abschlussball eines Tanz-Zirkels

Haben Sie einen Lieblingsfeind? Wenn ja, laden Sie ihn zum gemeinsamen Besuch eines Tanzkurses ein. Und freuen Sie sich auf den Abschlussball. Nicht wegen des obligatorischen Smokings oder Abendkleides, sondern weil sich an diesem Abend beim Gedränge auf dem Tanzparkett dem ungeliebten Mitmenschen so taktvoll wie sonst nirgendwo Nasenstüber, Genickstöße, Fußtritte, Prellungen Nahkampf und sogar ein blaues Auge verpassen lassen – wobei zwischen den einzelnen Nettigkeiten, wie es sich für einen echten Tanzsportler gehört, ein lächelndes Entschuldigung nicht vergessen werden sollte.

Nehmen wir zum Beispiel die Rumba. Kein anderer Tanz eignet sich besser für einen Kehlkopfschlag. Die Tanzpartnerin hat sich gerade in einem Kreisel zur Seite gedreht, beide strecken jetzt elegant die Arme zur Seite aus – welcher Zufall, dass sich dabei der Handkante ein Hindernis in den Weg stellt. Warum musste der Nachbar auch so nahe herantanzen!

Oder der Tango. Haben Sie das Kommando des Tanzlehrers noch im Ohr: Eins, zwei Wiegeschritt! Der Wiegeschritt nach hinten braucht nur – im Gewühl wird und muss man es verzeihen – ein wenig länger ausfallen, und schon wird ein überraschtes „Au darüber Auskunft geben, daß die Ferse des anderen nicht verfehlt wurde.

Während Wiener Walzer und Rock ’n Roll weniger für den Nahkampf geeignet sind – sie benötigen eine größere Konzentration auf die eignen Schritte, und ohnehin gleicht dabei die Tanzfläche einem Hexenkessel unkontrollierbarer Arme und Beine, aus dem alsbald der Ruf „Rette sich wer kann ertönt – hat sich die Samba ob ihrer Treffsicherheit bewährt. Vor allem bei der „Promenade“ lässt sich der Vordermann gut aufs Korn nehmen. Ein sicherer Tritt, und schon muss der Sanitäter wieder zum Heftpflaster greifen, hat sich die Zahl der Paare auf der gesteckt vollen Fläche dank persönlicher Initiative verringert, ist der eigene Freiraum wieder ein kleines Stückchen größer geworden.

Sie behaupten, Ihr Abschlussball habe ganz anders ausgesehen? Daran ist nur die Verklärung längst vergangener Jugendtage schuld. Meinen Abschlussball habe ich vor Augen, als ob er gestern gewesen wäre. Dabei war’s am vergangenen Montag. In der Gütersloher Stadthalle. Mit Smoking und langem Abendkleid, wie ich schon sagte. Denn es handelte sich vorwiegend um die reiferen Teilnehmer sogenannter Aufbaukurse für Paare.

Während die Grundkurse jenes Wissen vermitteln, das es den Tänzern ermöglicht, sich mehr oder weniger im Takt der Musik auf der Tanzfläche zu bewegen, ist es erst dem Teilnehmer eines Aufbaukurses vergönnt, sich auch dann anderen gegenüber zu behaupten, wenn vierhundert Leute auf ein Viereck vor der Musikkapelle drängen, auf dem eigentlich nur zweihundert Platz hätten.

Nach drei Stößen in die Nierengegend – der Kerl dahinten grinst auch noch unverschämt -, vier satten Tritten auf den kleinen Zeh – hatte der Gegner nicht noch genüsslich den Absatz einmal herumgedreht? – und einer Kratzwunde am linken Ohr, hervorgerufen durch den messerscharf gefeilten Fingernagel einer älteren Dame, die so enthusiastisch und raumfüllend tanzte, als sei sie mit ihrem Partner allein auf dem Parkett, muss jedoch auch der Aufbauschüler einsehen, dass er in diesem Nahkampf der vornehmsten Sorte zu den Verlierern zählt.

Über ihm stehen noch andere, Profis, Meister ihres Fachs. Bei Cha-Cha-Cha und Rumba fliegen ihre Arme und Beine nur so, und sie treffen im Gedränge immer. Wo sie das alles gelernt haben? Vielleicht in einem Bronze-, Silber- oder Silber-Perfektionskursus, einem Gold-Perfektionskursus oder – hier wäre schon der Schwarze Gürtel angebracht – in einem Goldstar-Kursus. Erst wer diese sieben verschiedenen Tanzkurse hinter sich gebracht und dafür als Paar mehr als 1200 Mark ausgegeben hat – denn die Eintrittskarten für den jeweiligen Abschlussball zwecks Erprobung des Gelernten sind zusätzlich zu erwerben – darf für sich in Anspruch nehmen, andere Tanzpaare auf dem Parkett in gebührendem Abstand zu halten. Wer gegen dieses ungeschriebene Gesetz verstößt, hat sich die blauen Flecke selbst zuzuschreiben.

Sie meinen noch immer, Ihr Abschlussball sei anders verlaufen? Vielleicht stimmt das sogar. Wenn ich es mir recht überlege, war mein erster Abschlussball vor sechzehn Jahren auch zahmer. Vor allem kann ich mich unter meinen damaligen Mittänzern an keinen mehr erinnern, der den blasierten Blick des über dem gemeinen, zwei links, zwei rechts tanzenden Fußvolkes stehenden Turniertänzers hatte. Es handelt sich hierbei um eine besondere Spezies Mensch. Früher entwickelte sie sich erst vom zwanzigsten Lebensjahr an, heute dagegen findet sie sich bereits unter den Fünfzehn- und Sechzehnjährigen. So von jugendlichen und älteren Nahkampfprofis eingekesselt, die alle das Motto kennen „Die Figuren, die ich gelernt habe, will ich auch tanzen, koste es, was es wolle!“, sehne ich mir ein Tanzlokal herbei, wo zwar niemand über den deutschen Einheitsschritt hinauskommt, wo ich aber weiß, den Tag überleben zu können. Bei einem Abschlussball weiß man das nie.

PS: Im September melde ich mich zu einem Bronzekursus an. Wir wollen doch mal sehen …