In der Unterwelt der Cevennen

Juli 1977:  Feuchten Lehm an Schuhen und Hosen, die Hände schmutzig und die Haare verschwitzt, sind sie den steinigen Hang heruntergerutscht und haben sich am Rande der Straße unter den Kirschbäumen, deren dunkelrote, saftigen Früchte wir gerade probieren, erschöpft ins Gras fallen lassen. Die Taschenlampen in den Händen der jungen Leute um die 20 und die Regenjacken, die Mützen oder gar Sturzhelme, die sie tragen, unterstreichen an diesem wolkenlosen heißen Sommertag in den Schluchten des Tarn im Naturpark der Cevennen noch das Ungewöhnliche ihres Erscheinens. Wo sind sie hergekommen?

Weiter oberhalb der Geröllhalde, am Fuße rötlich-brauner Fels wände, sei ein stillgelegter Steinbruch, gibt der Leiter der Gruppe von Amateur-Speläologen, ein Lehrer aus Florac, bereitwillig Auskunft. Und dort befinde sich auch der Eingang Zu der Höhle, die sie gerade erforscht hätten. Aber wer sich in ihr nicht auskenne, solle sie besser nicht betreten, rät er uns im gleichen Atemzug davon ab, es den jungen “ Höhlenforschern“ gleichzutun.
Daß wir einige Tage später und weiter südlich, auf der Fahrt durch die Georges de la Jonte, die Schluchten der Jonte, zum zweiten Mal einer ähnlich aussehen-en Gruppe begegnen (und wiederum ist nirgends ein HöhIeneingang zu entdecken), facht unsere Neugierde auf die französische Unterwelt erneut an. Eine Gelegenheit, sie zu stillen, bietet sich auf unsere Reise kreuz und quer durch die Cevennen in den Georges de l’Ardeche: Südlich des Campingplatzes “ des Tunnels“, den wir mit unserem Wohnmobil angesteuert haben, entdecken wir auf einem Spaziergang dicht an der Straße, die von Vallon-Pont d’Arc den Fluss entlang Richtung Pont St. Esprit führt, einige rostige, ins Gestein getriebene Eisenbügel, eine Art Leiter, und zehn Meter höher einen Felsspalt. Der Eingang zu einer Höhle? Richtig.
Kein Verbotsschild nach deutscher Manier, kein Sperrgitter warnt vor dem Betreten. Und dass vor uns schon andere den schmalen Gang erkundet haben, der nach einer Biegung mit starkem GefäIle abrupt in der Felswand endet – zehn Meter tiefer als die Straße und zwanzig Meter über den an dieser Stelle weiß schäumenden Wassern der Ardeche – ist im Schein unserer Taschenlampen nur unschwer zu erkennen an leeren Bierdosen, Papier und mancherlei anderem Unrat. Nein danke, wenn das alles ist, was diese Unterwelt zu bieten hat, ist unser Bedarf gedeckt!
Ein voreiliger Entschluss, wie sich bei der Rückkehr zum Campingplatz nach einem (längst fällig gewesenen) Studium von Michelin-Karten und -Reiseführer herausstellt: Die Unterwelt der Cevennen ist in der Tat so unwirklich schön, wie die jungen „Höhlenforscher“ sie uns geschildert haben. Und man braucht noch nicht einmal auf eigene Faust nach ihr zu suchen, sondern findet sie bequem auf einer von den örtlichen Syndicats d‘ Initiative herausgegebenen Faltkarte.
Keine der darauf eingezeichneten acht Höhlen gleicht der anderen. Drei von ihnen lassen sich von Vallon Pont d’Arc aus in Halbtags- oder Tagesausflügen erreichen. Gesagt, getan. Ob nun “ Aven“ (Höhle) oder Grotte, sie alle haben den gleichen Ursprung: Als in Urzeiten Alpen und Pyrenäen aus der Erdrinde emporgedrückt wurden, drängte der mittelländische Kalk nach Westen bzw. Norden, bis er vom heutigen Zentralmassiv (Auvergne) aufgehalten wurde. Wildbäche und Flüsse formten im Laufe von Jahrtausenden aus diesen faItigen, rissigen Ablagerungsmassen grandiose Arenen wie den „Cirque de Navaceiles“, einen Talkessel nördlich von MontpelIier, und phantastische, wie gigantische Ruinenfelder anmutende Steinlandschaften – „Le Bois de Paiolive“ bei St. Ambroix und das „Chaos de Montpellier ie Vieux“ bei MilIau – und schnitten ein Labyrinth von Hohlräumen bis zur Größe von Domen ins Erdinnere.
Die acht Höhlen der Cevennen, die für den Tourismus erschlossen sind, verlangen nur einen kleinen Abstecher, wenn das eigentliche Reiseziel die Mittelmeerküste oder Spanien ist. Die “ Aven de Marzal“ beispielsweise liegt nur zwölf Kilometer vom Rhonetal und der Autobahn entfernt. “ Prachtvoll“ nannte sie bereits 1892 ihr Entdecker, der Höhlenforscher E. A. Martel. Doch nachdem die Öffnung der Höhle wieder verschlossen worden war, geriet sie in Vergessenheit. Erst 1949 wurde sie wieder entdeckt und mit einer gewagten Treppenkonstruktion ausgestattet, die den Abstieg in 130 Meter Tiefe ermöglicht, vorbei an Hunderten feucht-glitzernder Tropfstein-Kaskaden. Geöffnet ist die Höhle vom 1. März bis 1. Dezember täglich von 9 bis 18 Uhr. Das Museum in der Nähe des Eingangs schiIdert die Höhlenforschung in Frankreich von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag.
Erst seit gut zehn Jahren zu besichtigen ist die “ Grotte de Ia Madelaine“. Wie die „Aven de Marzal“ ist sie vor drei oder vier Millionen Jahren entstanden, als sich gegen Ende der tertiären Eiszeiten auf der Hochebene reißende Flüsse bildeten und sich im Gebiet der heutigen Ardeche-Schlucht vereinten. Solange das Wasser die unterirdische Erosion besorgte, müssen die Wände der Gänge, Nischen und Höhlen wie poliert ausgesehen haben. Ihre bizarre Form nahmen sie erst an, nachdem das Wasser zurückgegangen war: Regenwasser, das von oben durch den porösen Kalkstein sickerte und dabei Kalk aufnahm, lagerte diesen später in den Hohlräumen wieder ab. Motto: Durch steten Tropfen wächst der Stein. Dort, wo die so entstandenen, teilweise lichtdurchlässigen “ Faltenwürfe“ der Tropfsteingebilde gelb schimmern, drang das Wasser schnell ein und sonderte den Kalk entsprechend schnell ab. Braur ist dagegen ein Zeichen für langsames Eindringen. Rötliche Farben sprechen dafür, dass der Tropfstein Eisenoxyd, und Grau, dass er Blei enthält.
Diese Vieifalt von Gesteinsformen und Farben erschließt in der “ Grotte de la Madelaine“ ein Weg von 500 MeterLänge durch mehr aIs 25 kIeine und größere „Säle“ von denen der letzte 65 Meter tiefer als der Höhleneingang, 140 Meter unter der Erdoberfläche und 100 Meter oberhalb der Ardeche liegt. Vom Fluss aus ist in der Felswand die Öffnung zu erkennen, aus der vor Jahrtausenden der Fluss austrat, der die Höhle erschuf.
Das Faltblatt des Verkehrsbüros, das den “ Circuit de Cavernes“ , die „Rundfahrt durch einzigartige unterirdische Weiten“ beschreibt, spricht zwar davon, seit undenklichen Zeiten hätten Menschen in den Höhlen Zuflucht gesucht. Für die „Grotte de la MadeIaine“ kann dies jedoch nicht zutreffen, da der Tunnel, der die Tropfsteinwelt erschließt, erst hatte in den Felsen gesprengt werden müssen. Die Unmenge von Knochen, die man in einem der “ Säle“ fand, stammen folglich auch nicht von Höhlenbewohnern, sondern von Bären, Hyänen, Rentieren und Hirschen, die zufällig in die Grotte gestürzt und dort verendet sind. (Geöffnet ist die Grotte vom 2. April bis 30. September von 9,30 bis 12 Uhr und von 14 bis 18.30 Uhr).
Nur 18 Kilometer südlich von Vallon Pont d’Arc liegt die “ Aven d’Orgnac“ , vom 1. März bis 30. November von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Ihre ockergelben und weißen Tropfsteinpfeiler erreichen eine Höhe von 20 Metern. Und der “ rote Saal“, mit seinen unzähIigen „Orgelpfeifen“ will schier kein Ende nehmen.
Weiter nach Süden in Richtung auf Ales befindet sich die “ Grotte de la Cocaliere“ . Von Palmsonntag bis 1. November ist sie täglich zwischen 9 und 12 Uhr und von 14 bis 18 Uhr zu besichtigen. Der Ursprung der Cevennen-Höhlen wird hier am deutlichsten: Überall Wasser, kleine Seen, Kaskaden. Bizarre Gewölbe spiegeln sich im ruhigen Wasser kristallisierter Becken. Eine kleine Bahn bringt die Besucher zur Höhle, vorbei an einem prähistorischen Bergbau mit Skelettresten, Tonscherben und Feuerstätten, keltischen Hünengräbern und Felsnischen, die in Urzeiten bewohnt waren. Auf 1,4 Kilometern ist „Cocaliere“ erschlossen.
Wie zwei feindliche Brüder liegen die Höhlen von Darginan und Armand beiderseits der Schluchten der Jonte. Den Kampf um die Gunst der Touristen scheint allerdings die “ Aven Armand“ gewonnen zu haben: An der Kasse warten die Besucher in langer Schlange darauf, dass ein gummibereifter Elektrozug sie durch einen 200 Meter langen Tunnel in die Grotte bringt. Bei der Ankunft auf der ersten Terrasse verschlägt es ihnen den Atem: 400 Stalagmiten, verschiedenfarbig beleuchtet, bilden einen bis zu 30 Meter hohen Wald aus Säulen, Palmen, Körbchen und kleinen Becken, in dem ein einzelner Mensch winzig erscheint. (Die Öffnungszeiten: Von Palmsonntag bis 30. September 8 bis 12 Uhr und von 13 bis 19 Uhr).
Vom nahen Meyrueis aus sind zwei Abstecher möglich, der eine nach Osten zur Grotte von Trabuc, die mit drei Sternen und einem unterirdischen See wirbt, die andere nach Westen zum Felsenmeer von „Montpellier le Vieux“. Sodann bildet die “ Höhle der Feen und Jungfrauen“ , so der Volksmund, die vorletzte Etappe des „Circuit des Tavernes“ . Während der Besucher sonst in die Höh-en hinabsteigt, steigt er in die “ Grotte des DemoseIIes“ südlich von Ganges hinauf. Auch hier eine Schienenbahn, die durch einen Tunnel in die Grotte fährt. Auch hier zahlreiche “ Säle“ . Nachdem mehrere von ihnen sowie ein Naturschacht passiert sind, ist die “ Kathedrale“ erreicht, eine besonders große Höhle, die wie ein unermessliches Kirchenschiff wirkt und deren Gewölbe allein aus aneinandergereihten Stalaktiten zu bestehen scheint. (Ganzjährig geöffnet).
Nach einem kleinen Umweg über den „Cirque de Navacelles“ endet die „Höhlen-Reise“ in der Nähe von St. Guilhenn-le-Desert. Die “ Grotte de Clamouse“ ist im Sommer von 9 bis 17 Uhr oder 18 Uhr geöffnet, im Winter nur nachmittags. Ausgehöhlt durch einen von der Kalkhochfläche des Larzac konnmenden unterirdischen Fluss, der sich in den Schluchten des Heraut in eine idyllische Quelle verwandelt, zeichnet sich die Grotte durch eine Folge kristalliner Gänge und einen außergewöhnlichen Reichtum an KaIksteingebilden vom hellsten Weiß bis zum stärksten Rostbraun aus. Das Charakteristischste an Clamouse sind jedoch die unzähligen fistelartigen “ Blumen“ aus Kalkspat, die Mineralienfreunde auf dem ca. ein Kilometer langen Rundweg überall entdecken können.
Welche der acht Grotten und Höhlen die schönste ist? Das junge Mädchen im Touristenbüro von Meyrueis umgeht die Frage geschickt: Wegen ihrer Verschiedenheiten müsse man alle Grotten gesehen haben. Doch es ist nicht jedermanns Sache, sich einen beträchtlichen Teil des Urlaubs bei vierzehn oder fünfzehn Grad in elektrisch beleuchteten Gewölben aufzuhalten, und wirkten sie noch so mysteriös, wenn draußen die südliche Sonne “ knackige“ Bräune verspricht. Zwei oder drei dieser bizarren Unterwelten zu besuchen (auf der Hin- oder Rückreise oder bei Ausflügen von der französischen MitteImeerküste aus), empfiehlt sich aber auf jeden Fall. Eine sicherlich willkommene Urlaubsabwechslung, zumal diese Art der Höhlenerforschung völlig ungefährlich ist. Als allerdings in der „Grotte de la Madelaine“ der Führer alle Lampen ausschaltet, um zu zeigen, was der Speläologe G. Rigaud bei der Entdeckung der Höhle im spärlichen Licht einer Laterne sah – nämIich so gut wie gar nichts -, beschleicht doch so manchen ein Gefühl der Beklemmung. Aber da erstrahlen die Jahrtausende alten Stalagmiten, Stalaktiten und Faltenwürfe auch schon wieder faszinierend in Gelb, Rot und Braun. Eine stille Wunderweit.