„Hotel“ mit Atombunker ist fast ständig ausgebucht

1977:  In sein „Gästebuch“ tragen sich pro Woche bis zu 700 Besuchern ein, und kaum ein Bett des dreistöckigen Gebäudes bleibt nachts unbenutzt. Und dies, obwohl die Speisekarte nur ein Tagesgericht kennt, der „Portier“ auch auf hartnäckiges Bitten hin den Schlüssel für einen nächtlichen Spaziergang nicht herausrückt, keine Zeitungen ausliegen und der einzige Fernseher des Hauses nur von „Stammkunden“ benutzt werden darf.

Von Amtsgericht und Arbeitsamt in die Mitte genommen und durch Bäume und Sträucher „getarnt“, liegt ein „Hotel“ besonderer Art. In sein „Gästebuch“ tragen sich pro Woche bis zu 700 Besuchern ein, und kaum ein Bett des dreistöckigen Gebäudes bleibt nachts unbenutzt. Und dies, obwohl die Speisekarte nur ein Tagesgericht kennt, der „Portier“ auch auf hartnäckiges Bitten hin den Schlüssel für einen nächtlichen Spaziergang nicht herausrückt, keine Zeitungen ausliegen und der einzige Fernseher des Hauses nur von „Stammkunden“ benutzt werden darf. Vom Staat betrieben, kann dieser Übernachtungsbetrieb auf Werbung völlig verzichten. Sein Name, auf einem kleinen Schild neben der großen eisernen Pforte abzulesen: Justizvollzugsanstalt Bielefeld, Außenstelle Gütersloh“.

So heißt das Februar 1961 in Dienst gestellte „Gerichtsgefängnis“ seit dem 1. Januar dieses, Jahres (1977), nachdem es zwischenzeitlich als „Zweiganstalt“ geführt worden war. Doch während sich der Name ändert, blieb die Zweckbestimmung dieses Gebäudes stets die gleiche: Durchgangslager für alle Strafgefangenen, die aus dem geschlossenen Vollzug in den offenen verlegt werden. Mit anderen Worten: Wer den Rest seiner Strafe in einer der 24 Außenstellen der JVA Bielefeld absitzen (und abarbeiten) muss – um vier davon zu nennen: Blankenhagen, Batenhorst, Verl und Harsewinkel – lernt zunächst einmal den Gefängnisblock in Gütersloh kennen, und sei es auch nur für wenige Stunden. Pro Woche kommen und gehen auf diese Weise bis zu 700 Häftlinge, „Oberems-Insassen“, ebenso wie sogenannte Transportgefangene, die zu einem Gerichtstermin oder auf dem Weg von einer Anstalt in eine andere nur eine Nacht in Gütersloh bleiben. Eine stattliche Zahl – und Grund genug, sich einmal hinter den Betonmauern dieser „Zwischenstation für Knastologen“ umzusehen.

An ihren schmalen Sehschlitzen an den Seiten sind die dunkelgrünen Busse sofort als Gefangenentransportwagen zu erkennen. Nach einem genauen Fahrplan verkehren sie regelmäßig zwischen den Strafvollzugsanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus. Und vierzehnmal pro Woche machen sie auch an der Bismarckstraße in Gütersloh Station. Tor auf, Tor zu, ein kahler, viereckiger Innenhof, rundherum Fenster bis zum Flachdach über dem dritten Stockwerk, durch Betongitter gesichert – für jeden Gefangenen „auf Transport“ der gleiche erste Eindruck.

Eine Anstalt wie viele andere auch? Keineswegs. Polizeiinspektor Klaus Jäckel: „Als das >Gerichtsgefängnis< 1961 in Betrieb genommen wurde, galt es als eines der modernsten in der ganzen Bundesrepublik. Die Tatsache, dass alle Zellen zum Innenhof liegen, und eine moderne Alarmanlage machen es nahezu ausbruchsicher. Und auch die Toiletten auf allen Zellen waren damals, als anderswo morgens noch die Kübel vor die Zellentüren gestellt werden mussten, rühmenswert! “ Eines hat das Gütersloher Gefängnis auch heute noch anderen Anstalten voraus: einen Atombunker. Hinter seinen meterdicken Betonmauern fänden im Ernstfall alle Beamten und Gefangenen Platz. Nur: Lebensmittel sind nicht eingelagert. Meint Justizhauptsekretär Hans-Joachim Schröder, der stellvertretende Dienstleiter, trocken: „Wenn’s kracht, ist sowieso alles zu spät … !“

Ebenfalls im Kellergeschoss des Gefängnisses liegen Beruhigungszelle (für Randalierer und Selbstmordkandidaten) und die Arrestzelle (für Unbelehrbare). Doch sie werden nur sehr selten benötigt. Der größte Teil der Gefangenen kommt über die großen Gemeinschaftszellen im Erdgeschoss, die als Warteräume dienen, nicht hinaus. Kaum angekommen, werden sie dort untergebracht, um nacheinander einer Kommission vorgeführt zu werden, die entsprechend der aus den Akten abzulesenden Straftaten und der beruflichen Neigung darüber entscheidet, welche der 24 Oberems-Außenstellen den Gefangenen noch am gleichen Tag aufnehmen wird.

Diese Auswahl zu treffen, ist schon allein aus räumlichen Gründen in der „Stammanstalt“ in Bielefeld, wo auch der Anstaltsleiter, Leitender Regierungsdirektor Ferdinand Berendes, sein Büro hat, nicht möglich. Denn mit 180 Untersuchungsgefangenen und weiblichen Häftlingen ist das Bielefelder Haus voll belegt, so dass auf die Gütersloher Außenstelle als „Großverteiler“ nicht verzichtet werden kann. Von deren 78 Gefangenenplätzen entfallen acht auf „feste“ Hausarbeiter – zwei von ihnen schalten und walten nahezu selbständig in der Anstaltsküche – und weitere 27 auf die Krankenstation im dritten Stock.

Einzelzellen sind die Norm. Wer als Gefangener die Geselligkeit liebt, muss schon Glück haben, in eine der fünf Gemeinschaftszellen zu kommen, wo jeweils vier Betten stehen. Oder er muss schriftlich erklären, dass er mit einer Notunterkunft für ein oder zwei Tage bis zu seinem Weitertransport einverstanden ist. Als solche gelten Einzelzellen mit zwei Betten. Das Einverständnis des Gefangenen muss vorliegen, weil eine Vorschrift jedem Häftling eine genaue Quadrat- und Kubikmeterzahl zuspricht, die ein Anstaltsleiter von sich aus nicht unterschreiten darf.

Den Krankentrakt ausgenommen, geht es in den Zellen zu wie im Taubenschlag. „Bei durchschnittlich hundert neuen Gefangenen pro Woche kann man sich kaum noch ein Gesicht merken“, sagen die 28 Justizbeamten der mittleren Laufbahn, die sich in der Gütersloher Außenstelle den 24-Stunden-Dienst teilen. Stress ist für sie mehr als nur ein Fremdwort. Hans-Joachim Schröder: „Privat bin ich schon oft gefragt worden, was ich denn überhaupt so mache im Strafvollzug. Ich sage dann immer, ich stünde mit der gezogenen Pistole an der Türe und achte darauf, dass auch nur ja keiner entweicht!“ In Wirklichkeit jedoch haben die Beamten ganz anderes zu tun, an der Außenpforte, in der Zentrale mit ihren technischen Finessen, in der Küche, auf der Krankenstation, in der hauseigenen und in der Zentralkammer, auch „Warenhaus“ genannt. Und das hat seinen guten Grund. Denn dort lagert vom Radio über Fernseher, Putzlappen, Hausschuhe, Bett- und Unterwäsche bis zu Freizeitanzügen, Schneebesen, Töpfen und Geschirr aIles, was in den 24 Außenstellen „Obereins“ regelmäßig neu benötigt wird. Wenn’s „von oben“ gewünscht würde, könnte von Gütersloh aus eine neue Außenstelle komplett eingerichtet werden, so groß ist der Warenbestand.

Auch Bibeln gehören dazu. Denn wer das Bedürfnis zum Beten hat, soll es tun können. Deshalb auch der Kirchenraum in der Gütersloher Anstalt mit altem Harmonium und modernem Altar, an dem jeden Sonntag ein evangelischer und katholischer Pfarrer im Wechsel Gottesdienst hält. „Freizeitvergnügen“ anderer Art gibt es für die Gefangenen an Wochenenden allerdings nicht. Was in den 24 „Oberems“-Lagern gang und gäbe ist – Fernsehen, Tischtennis, Fußball – gilt nicht für die Gütersloher Außenstelle. Polizeiinspektor Jäckel: „Aus Gründen der Sicherheit. Um die Gefangenen, die für „Oberems“ bestimmt sind, sorgen wir uns dabei weniger. Aber die Transportgefangenen, die ohne ihre Akten in Gütersloh Zwischenstation machen, sind ein Unsicherheitsfaktor. Wir wissen nicht, weshalb sie einsitzen!“ Deshalb also bleiben die Zellen zu. Fernsehen dürfen nur die acht Hausarbeiter. Einzige Unterhaltungsmöglichkeit bleibt somit die Hausfunkanlage, die ein Radioprogramm in jede Zelle überträgt (wenn sie dort von den Gefangenen angestellt worden ist). Meist läuft das zweite Programm des WDR.

Auch auf der Krankenstation, wo ein Vertragsarzt aus dem St.-Elisabeth-Hospital dreimal In der Woche jeden „Neuzugang“ untersucht (sofern das nicht später in den Außenlagern selbst geschieht) und die von dort kommenden Kranken behandelt. „Nur leichte Fälle wie Knochenbrüche und Erkältungskrankheiten“, sagt der Sanitätsbeamte. „Schwerkranke kommen sofort ins Elisabeth-Hospital!“ Dort werden sie behandelt wie jeder andere Patient auch. Ohne Bewachung. Ein Fall aus jüngster Zeit: Frisch am Blinddarm operiert, suchte ein Gefangener nach einem Sprung aus dem Fenster des Krankenzimmers das Weite. Inspektor Jäckel: „Er kam aus dem halboffenen Vollzug, so dass wir damit nicht rechnen konnten. „Schwere Jungs“ werden in das Gefängniskrankenhaus Bochum oder Düsseldorf überwiesen!“ Neben dem Behandlungsraum des Mediziners liegt der des Zahnarztes. Doch dort decken Tücher die Geräte zu. Denn zur Zeit hat die Anstalt keinen Zahnarzt unter Vertrag (Wer lässt sich schon gerner sagen: „Wenn`s weh tut, hau ich zu!“)

Überhaupt: Während der Strafvollzug in den letzten Jahren menschenwürdiger geworden ist, ließ die Disziplin in gleichem Maße nach. Alle drei bis vier Wochen müssen die „Wartezellen“ neu gestrichen werden, weil die Gefangenen die Wände mit Bemerkungen „unter der Gürtellinie“ schmücken. Und auch vor der Einrichtung der Zellen machen manche nicht halt. Klar ist jedoch: Wer sich so auch im halboffenen Vollzug verhält -die 24 Außenlager beherbergen zur Zeit rund 1150 Gefangene – muss damit rechnen, in eine geschlossene Anstalt zurückverlegt zu werden. Das ist dann das einzige Mal, dass die Beamten der Außenstelle Gütersloh einen Gefangenen zum zweiten Mal sehen. Es sind nicht gerade ihre liebsten „Hotelgäste“…

Gütersloh, März 1977