„Kaffee-Fahrt“ auf der nächtlichen Nordsee

Über ein Phänomen, das aus der Mode gekommen ist.

Morgens um 6.15 Uhr war für Frau Meier die Welt noch in Ordnung. Kaum hatte der Bus des Lüttringhauser Reisebüros die drei Haltestellen „Lüttringhausen Rathaus“, „Lennep Kreishaus“ und „Remscheider Stadttheater“ abgefahren und steuerte – besetzt mit 35 Remscheidern und vier Hückeswagenern – die Autobahn an, sang sie aus voller Brust: „Wo Tann‘ und Fichten steh ’n am Waldessaum, erlebt‘ ich meiner Jugend schönsten Traum“. Zwanzig Stunden später, als sie am Ende der „zollfreien Nordsee-Einkaufsfahrt mit Bus und Schiff in die hohe See“ todmüde und schwer bepackt wieder aus dem Bus kletterte, war der Traum ausgeträumt und Frau Meier 500 Mark ärmer. Doch machen wir’s chronologisch. Auf ein Inserat hin hatten sich bei dem Lüttringhauser Busunternehmen, das mit der Bremer Werbegesellschaft Grund zusammenarbeitet, die vierzig Reiselustigen, meist Rentner und Rentnerinnen, für die erste der sieben „Kaffeefahrten“ dieser Woche angemeldet. Sie waren genauso ahnungslos wie Busfahrer Lothar Koschmieder, was sie erwarten würde. Er wußte nur eines: Um 10 Uhr musste er in Lingen sein, wo im „Dorfkrug“ die Werber der Firma Grundt auf die Busgesellschaft warteten. Und am Nachmittag sollte das „gut beheizte Salonschiff“ von Leer in Ostfriesland in rund drei Stunden nach Delf Ziyl in Holland fahren, wo der leere Bus die Fahrgäste wieder erwarten müsste.
Für die „große Seereise“ versprach das Inserat zollfreie Einkaufsmöglichkeiten: 200 Zigaretten ab acht Mark, ein Liter Spirituosen ab fünf Mark. Lothar Koschmieder rechnete damit, gegen zehn Uhr wieder zurück zu sein, zumal die nächste Tour für ihn bereits sieben Stunden später beqinnen sollte. Doch er täuschte sich: Die letzten Fahrgäste verließen den Bus am Remscheider Rathaus um 2.15 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hatte die so großartig angepriesene Fahrt für die meisten längst ihren Glanz verloren.
Das begann bereits um 10 Uhr im „Dorfkrug“ von Lingen, einem anfangs recht kühlen Saal, in dem den Remscheidern und Hückeswagenern in Erwartung des „reichhaltigen Mittagessens“ – im Fahrpreis von 19,50 Mark inbegriffen – nichts anderes übrig blieb, als zwei Stunden lang die Lobreden eines geschickten Verkäufers über einen elektrischen Heizofen für 438 Mark, eine Bügelpresse für 498 Mark, ein Kräuteröl für zwölf Mark, eine Gesundheitsdecke (198 Mark), ein „schwedisches Kurzwellen-Bett“ (278 Mark), ein Vibrationskissen (228 Mark) und ein Kopfkissen aus Schurwolle (78 Mark) anzuhören.
Von dem im Inserat kleingedruckten Satz „Teilnahme freigestellt“ konnte niemand Gebrauch machen; das Wetter draußen war zu ungemütlich. So hatten die Grundt-Werber denn „Kunden“, die ihnen sicher waren. Und sicher war auch der Umsatz. Von achtzig Zuhörern -ein zweiter Bus aus Duisburg war noch eingetroffen – hatten zwar bereits zehn eine Bügelpresse („Das sind die Stammkunden unserer beliebten Fahrten“, freute sich der „Conferencier“), aber am Ende der einschließlich Mittagessen fast vier Stunden dauernden „Sitzung“ waren doch vier Bügel-geräte, ein „Kurzwellen-Bett“ und diverse kleinere Teile verkauft. Da die Busmiete durch die Beträge der Teilnehmer abgegolten war und die Firma auch mit der Reederei des Ausflugsschiffes eine für sie günstige Regelung getroffen hat, waren die Unkosten des Werbeunternehmens auch diesmal wieder gering. Die Kasse stimmte, der Slogan „Mit diesem Gerät fühlen Sie sich zwanzig Jahre jünger“ hatte erneut gezündet.
Vom Dorfkrug“-Saal in einen engen Schiffsbauch: ein zugiges Oberdeck, ein stickiges Unterdeck, eine kaum ein Meter breite Treppe, die zu den beiden winzigen Verkaufstheken führte und auf der sich die Geister schieden, kaum hatte das Schiff von Leer aus Kurs auf Emden genommen. Die „hohe See“ wurde nie erreicht und war auch nicht zu sehen. Draußen herrschte bereits zehn Minuten nach der Abfahrt tiefe Dunkelheit.
„Es kann gekauft werden!“ Auf dieses Signal hin wurde die Treppe unpassierbar. „Drängeln Sie doch nicht so!“ – „Ich drängel doch nicht. Sie drängeln!“ – „Nein, ich werde von hinten geschoben!“ -„Lassen Sie mich doch bitte mal durch!“ – „Wie denn bloß?“ Als eine recht vollschlanke Dame mit zwei schweren Plastiktüten zwei ebenso stattliche Damen passieren wollte, kam’s zum Chaos. Alles stockte. Zwei Minuten dauerte es, bis sich die wogenden Busen wieder voneinander getrennt hatten.
Eine kleine Schar jüngerer Leute wartete derweil auf dem Oberdeck geduldig darauf, dass der „Sturm“ abflauen würde. Und tatsachlich konnten sie zwei Stunden später in aller Ruhe einkaufen, 200 Zigaretten für zwölf statt acht, ein Liter Spirituosen für 5,50 statt der angekündigten fünf Mark Zollersparnis für Zigaretten und eine Flasche Whisky sowie acht Pakete Butter zu je einer Mark: rund 25 Mark. Den Fahrpreis abgezogen, blieben noch 5,50 Mark für Getränke und Schnittchen.
Fazit: Die Fahrt war kostenlos, von den angepriesenen und gekauften Grundt-Produkten einmal abgesehen. Doch Frau Meier wusste nicht so recht, ob sie zufrieden sein sollte. Die 680 Kilometer lange Busfahrt war kein Vergnügen gewesen, die Schiffstour ebenso wenig, von der Nordsee sah man nur rote Leuchtbojen und die Lichter zweier Frachter. „Aber es war mal wieder eine Abwechslung“, sagten sich die Mitglieder des Lenneper Altenclubs, die mit von der Partie waren. Und Frau Meier kamen während der Fahrt von Lingen nach Leer Erinnerungen. „Hier fuhr ich nach dem Kriege zum Hamstern hin!“
Die zwanzigstündige „Hamsterfahrt“ vorn vergangenen Montag ging für sie und andere allerdings „plus minus null“ aus. Von ein paar blauen Flecken als Erinnerung an das Gedränge auf der Schiffstreppe einmal abgesehen. Und von den Strapazen. Und von dem Kauf des Heizofens oder „Schweden-Bettes“, und …

Hückeswagen/Remscheid, 14.11.1974