Halbinstel Istrien

1974:  Nicht nur die Hotels und Bungalow-Siedlungen Jugoslawiens, sondern auch viele Campingplätze an der viertausend Kilometer langen Adriaküste des Landes sind alles andere als spartanisch. (1974)

Nur: Wer im hochsommerlichen Badegewühl leicht Platzangst bekommt, sollte seinen Jugoslawien-Urlaub doch lieber auf den Herbst oder das Frühjahr verschieben, zumal das touristische Angebot dann zu Preisen zu haben ist, bei denen deutsche Campingplatz-Betreiber längst hätten Konkurs anmelden müssen. Einziger Nachteil der Vor- oder Nachsaison: Dann macht das Unterhaltungsangebot – und auch ein Camper will (zumindest einmal) etwas anderes sehen als Zeit/Wohnwagen, Strand, Supermarkt, Zeit/Wohnwagen etc. – den Prospekten von Yugo-Tours zum Trotz – einen etwas verkümmerten Eindruck.
Zwar hatte der Veranstalter für textilfreies Camping in Jugoslawien für Porec „zahlreiche Veranstaltungen, drei Tanzlokale in der Nähe, internationales Programm, Nightclub, Folklore, Bars“ versprochen, für Vor- und Nachsaison trifft jedoch eher der Text einer Broschüre des heimischen Fremdenverkehrsbüros zu; darin ist von ruhiger Erholung und Entspannung die Rede. Der junge Mann in Blue-Jeans und Rollkragenpullover, der an der Rezeption des Campingplatzes seinen Schichtdienst absolviert, schüttelt den Kopf: „Kein Tanz im Hotel. Und auch in Porec noch alles zu. Noch keine Saison!“ Das gleiche hatte kurz zuvor ein Strandwärter in der Nähe des viel berühmten „International Club“ an der Zelena Laguna von Porec in zwei Worten ausgedrückt: „Nix Arbeit!“ Und das gilt von April bis Mitte Mai nicht nur für den „lnternational Club“ von Porec. Nahezu überall entlang der jugoslawischen Adriaküste dämmern Spezialitäten-Restaurants in Erwartung des kommenden hochsommerlichen Touristen-Ansturms vor sich hin, sonnen sich Eidechsen neben aufgestapelten Plastiksesseln, versprechen Laub fegende Arbeitskolonnen in blauen Kitteln den Beginn von „high life“ in Diskotheken und Nachtclubs für „bald“ und „die nächsten paar Tage“, wie sich die Reiseleiter herauszureden verstehen, ohne die Urlauber jedoch in den Genuss dieser Vergnügen kommen zu lassen.
„Ja, Pula ist große Stadt. Sechzigtausend Menschen.“, Der junge Mann an der Rezeption greift zum Telefon. „Kompas Tours, eine für Ausflüge und Sonderveranstaltungen verantwortliche jugoslawische Reiseorganisation, soll Auskunft darüber geben, ob es sich auch in der Vorsaison lohnt, das Nachtleben dieser größten Stadt Istriens zu genießen. Die Antwort ist vielversprechend: „In Pula zwei Nachtlokale sind offen!“ Pula, ehemals Kriegshafen der Österreicher, ist heute nicht nur die wichtigste Industriestadt der istrischen Halbinsel neben Rijeka, sondern hat auch militärische Bedeutung. In Pula sind heute große Teile der jugoslawischen Armee stationiert – vornehmlich Ausbilungsbataillone, deren junge Soldaten an den Wochenenden in ihren blauen, grauen und grünen Uniformen die engen Straßen der Altstadt zwischen dem 1900 Jahre alten römischen Amphitheater, dem Augustustempel und der „Porta Aurea“ bevölkern. Ganze Kompanien nehmen an solchen Feiertagen die kleinen Straßencafés und Schenken in Beschlag, oder stehen Schlange vor den winzigen Foto-Geschäften, in denen man für wenig Geld sein (uniformes) Passbild machen lassen kann. Vergeblich suchte unser bundesdeutscher Urlauber dafür jedoch in der Vorsaison in Pula nach nächtlichen Vergnügungen. Wie hatte es im „Reise-ABC“ unter „N“ wie „Nachlokale“ so schön geheißen: „Gibt es in allen größeren Ferienorten, die etwas auf sich halten. Sie sind alles andere als sozialistisch prüde, bieten mitunter gewagten Striptease und sind vor allem konkurrenzlos preiswert“. Die Dame in der „Kompass“-Niederlassung in Pula darf jedoch weder im April noch Ende Oktober von solchen Angeboten etwas wissen. Vergeblich zeigt in dieser Zeit der Finger auf das „N“ des „Reise-ABC“. Die Dame am Schalter meint nur lakonisch: >In einem Hotel ist Tanz. Sonst alles zu. Aber in Opatija viel Spass!“
Womit in Anbetracht der großen Entfernung zwischen Pula und Opatija nur noch die Rückkehr ins beschauliche, Erholung und Entspannung versprechende Porec übrig bleibt, wo erst ab 15. Mai in den Hotels die Tanzkapellen aufspielen, die Sportgeschäfte jedoch schon lange Zeit vorher Waggonladungen voller Angelausrüstungen an den Urlauber bringen. Sollte tatsächlich einmal ein Fisch anbeißen – was die Einheimischen bezweifeln, die beim Angeln auf technischen Komfort verzichten und sich mit einer Schnur und einem Haken begnügen – erweisen sich die Köche der Touristenhotels gnädig: Am Abend servieren sie den mühsam und geduldig gefangenen Fisch gegrillt und mit Zitronenscheiben und Petersilie garniert.
Der Hunger auf solche Köstlichkeit ist besonders groß, wenn man von einer „Piratenfahrt“ zurückkehrt. Denn was in Tunesien die „Hochzeit im Beduinenzelt“ und in Spanien das Barbecue, ist im Ausflugsangebot der jugoslawischen Veranstalter die „Piratenfahrt“, ein als feucht-fröhlich angekündigter Ausflug ins Unbekannte, wo eben dort ein „zünftiger Schmaus“ serviert werde.
So oder ähnlich bringt in Porec auf Istrien „Kompas Tours“ über die örtlichen Reiseleiter ihr Angebot an den erlebnishungrigen Camper. Ergebnis phantasievoller Erzählkunst und eines vielversprechenden Augenzwinkerns: Jede Woche Freitag verlassen zwei Motorboote den Hafen von Porec, machen Zwischenstation an der Plava Laguna und der Zelena Laguna, den beiden Touristenzentren fünf Kilometer von Porec entfernt, um dann den neun Kilometer ins Landesinnere reichenden Meeresarm, Lim-Fjord genannt, anzusteuern.
In einer großen Grotte am Rande dieses Fjords endet jede Fahrt „ins Blaue“. Und wenn dieses Ziel erreicht ist, haben sich auch die Illusionen verflüchtigt.
Die alte Dame von 72 Jahren und stattlicher Leibesfülle keucht. An jedem Arm wird sie von einem starken Mann gehalten. Die Männer müssen während des beschwerlichen Aufmarsches vom Landungssteg der Boote zum weiter oberhalb gelegenen Höhleneingang Schwerstarbeit leisten. An diesem Felsvorsprung hilft Schieben, an jenem Ziehen. Aber schließlich kann sich auch die betagte Rentnerin in ihrem hellen Kleid vor dem Höhleneingang im frischen Gras niederlassen. Mit einem erleichterten Seufzer denkt sie zurück an die Strapazen zu Beginn der verlockenden „Piratenfahrt“, die sie nun glücklich überstanden hat.
Das „an Bord gehen“ in Plava Laguna bereitete ihr noch keine Schwierigkeiten. Doch dann machte sich eine recht rauhe See mit Gischt und Sprühwasser be-merkbar, so dass der hinten im offenen Boot sitzenden Rentnerin schon bald die Haare im Gesicht klebten. Ein Glück nur, dass sie nicht wie viele jüngere Fahrtteilnehmer auf den rohen Holzplanken am Bug des kleinen Schiffes sitzen musste. Wer von dort aus die halbstündige Fahrt entlang der Küste „genoß“ hängte seine Bekleidung später weitestgehend vor dem Eingang zur Grotte an Bäumen und Sträuchern auf – ein malerisches Bild echten Piratenlebens.
Nüchterner agierte da schon die burschikose Reiseleiterin, deren deutsche Aussprache die Berlinerin verriet: „Bitte setzen Sie sich zu viert zusammen. Jede Gruppe bekommt zwei Liter Weißwein,. Auf die Koteletts müssen wir noch etwas warten. Die sind noch nicht fertig! Und wer noch mehr Wein haben will – die Flasche kostet sechs Mark!“
Etwas verblüfft schauen sich manche frischgebackenen „Piraten“ an: Das also ist der Clou der als „Schlager im Ausflugsprogramm“ angekündigten „Piratenfahrt“ ein halber Liter herben Weißweins und ein Kotelett vom Grill. So hocken sie dann auf hartem Stein oder grünem Gras, das blaue Wasser des Lim-Fjordes vor Augen, eine ungemütliche (Toiletten-) Grotte hinter sich, in der es niemand lange aushält, einen Pappbecher mit Wein in der einen und ein Kotelett samt Papierserviette in der anderen Hand.
Langsam wird die Weinflasche leer, eine waschechte Bayerin sammelt in einer Plastiktüte die Knochen der Koteletts ein („Weil der Portier in unserem Hotel einen Hund hat“) und mit Hilfe des kostenpflichtigen Weinvorrates, der leer gewordene Flaschen schnell ersetzt, scheiden sich schon bald die Geister.
Hier stimmt eine Schar betagter Twens ein Potpourri von „Adelheid“ bis „Oh du wunderschöner deutscher Rhein“ an, dort schlagen sich „Piraten“ allein oder zu zweit in die Büsche, um vom Karstfelsen über der Grotte einen malerischen Blick über den sich zwischen steilen Hängen windenden Meeresarm zu genießen, während das Lied vom Westerwald schaurig-schön vom tiefer gelegenen Plateau hinaufklingt.
Zwei Stunden gehen so vorüber. Und als die Reiseleiter schließlich zum Aufbruch auffordern, sind die beiden Schiffe schnell wieder besetzt, zumal vor einer halben Stunde auch die letzte Weinflasche – für sechs Mark – leer geworden war. Einziger restlos froher Passagier in der Runde -von den Reiseleitern abgesehen, die es ebenfalls bald überstanden haben werden – ist bei der Rückfahrt nach Porec die alte Dame.
Schon eine halbe Stunde vor Abfahrt der Schiffe hatte sie unter Hilfestellung den Abstieg von der Grotte zum Bootssteg gewagt und sich einen windstillen Platz hinter dem Ruderstand gesichert. Schade, dass sie diese „Piratenfahrt“ und nicht den ganz normalen Bootsausflug zum Lim-Fjord gebucht hatte. Denn dieser hätte nur ein Drittel der weinseligen „Piraten-Romantik“ gekostet und dabei noch Ruhe und Beschaulichkeit in grandioser Landschaft versprochen. Nur – was ein echter „Pirat“ ist, der will nicht schauen, sondern erleben … Wein und Kotelett im Duett auf bewegter See: … (Der auf Sauberkeit bedachte Kapitän hatte das gar nicht so gerne.)
Herbe Kritik an den etwas stilleren Urlaubsmonaten? Ein indirektes Loblied auf die Hochsaison? Mitnichten! Wer auf organisierten Tourismusrummel verzichten kann – und das können doch wohl die meisten Camper, oder? -findet gerade in Vor- und Nachsaison die nötige Muße, um Porec und das istrische Hinterland wirklich „erleben“ zu können.
Porec, das vormals italienische Parenzo, hat heute etwas über 4000 Einwohner, wenn man die vielen Urlauber auf den Campingplätzen, in den Hotels und Bungalowdörfern rundherum nicht mitzählt. Den Reiseführern zufolge, die sich jeder studienbeflissene Feriengast vor seiner Abreise in Deutschland kauft, ist Porec einer der sehenswertesten Orte der jugoslawischen Adriaküste. Diesen Ruf bringt ihm – wieder den Reiseführern nach – die aus dem 6. Jahrhundert stammende byzantinische „Eufrasia-Basilika“ ein, deren Goldmosaiken als „prachtvoll“ bezeichnet werden. Hinzu kommen alte Patrizierhäuser der italienischen Epoche. Tatsächlich ist die „Basilica-Eufrasia“ sehenswert. Kaum ein Fotoamateur sucht nicht im Hof des alten Domes nach der richtigen Blende und legt sich sogar auf den Boden, um golden schimmernde Mosaiken auch möglichst kunstvoll auf spätere Dia zu bringen. Hauptattraktion der kleinen Hafenstadt mit ihrer malerischen Altstadt, deren Romantik erst in den Hinterhöfen zutage tritt, ist jedoch nicht die geschichtsträchtige Basilika. Vielmehr sind es Firmenschilder mit der Aufschrift „Filigran“, die die Touristen anlocken.
Überall in den schmalen Gassen, die sich quer durch das auf einer Halbinsel gelegene Porec ziehen und das „Hauptgeschäftszentrum“ bilden, springen sie ins Blickfeld. Und alle Läden, über denen sie hängen, beherbergen Hunderte, ja Tausende von kleinen Kunstwerken, wie sie Touristen gerne als Souvenir mit nach Hause nehmen.
Silberdraht ist ihr Ausgangsprodukt. Aus ihm fertigen geschickte Hände zierliche Broschen, Ringe, Armbänder, Halsketten und -für besonders finanzkräftige Urlauber – Miniatur-Segelschiffe. Künstliche Patina gibt den sonst fast weiß aussehenden Schmuckstücken aus Silber ein antikes Aussehen. Dafür zahlt der Tourist dann einen Preis, der Käufer wie Verkäufer zufrieden stellt. Und wer in ausländischer Währung bezahlt, kann nach dem üblichen Handeln sogar noch einmal zehn Prozent Nachlass erreichen.
Ist über solchen Einkäufen, überheißen Tagen mit Sonnenbädern und Ausflügen ins durchaus sehenswerte Landesinnere – erwähnt sei dabei nur die alte Bergstadt Motovun mit ihrer grandiosen Aussicht – der Urlaub vergangen, können die deutschen Urlauber ihre Reiseführer beiseite legen und Bilanz ziehen. Nicht überall in Jugoslawien wird sie gleich aussehen. Denn mondäne Badeorte wechseln sich mit verträumten Fischerdörfchen ab. Sie alle haben jedoch eines gemeinsam -und das nicht nur in Istrien: eine Bevölkerung, liebenswert und vielfach noch ursprünglich, eine reizvolle und abwechslungsreiche Landschaft, Kunstschätze aus vielen Epochen und günstige Preise: In diesem Jahr wurde der Dinar um dreißig Prozent abgewertet.