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1969Blick hinter Theaterkulissen
Über eine Neuinszenierung am Regenburger Theater.
Theater in Regensburg, Nürnberg, Coburg, Hof oder Bamberg, das sind eigene Ensembles auf eigener Bühne. Theater in Weiden, Ebern oder Straubing, das ist das „eigene“ Gebäude mit dem „nicht-eigenen“ Inhalt. Überall dort jedoch eröffnet sich dem stillen Beobachter vor einer Aufführung, wenn er hinter den Kulissen, zwischen Scheinwerfern und Dekorationen, eine Prise Theaterluft schnuppert, eine ihm sonst fremde Welt.
Egal, was auf der Bühne gespielt wird, ob Shakespeares „König Lear“, Sartres „Ehrbare Dirne“, ob klassisch oder modern; ehe sich der Vorhang hebt, proben Schauspieler unzählige Male ihre Rolle, diskutieren Regisseur und Bühnenbildner technische Fragen der Gestaltung, schreibt der Beleuchter für jede einzelne Szene einen Beleuchtungsplan, kennen die Bühnentechniker jeden einzelnen Handgriff, der in der Pause einen schnellen Bühnenumbau garantiert. Von all dem weiß der Theaterbesucher meist nichts. Kaufleute, Arbeiter, Angestellte, Studenten und Schüler, sie alle sitzen in ihren Logen oder im Parkett und lassen mit dem Geschehen auf der Bühne eine Traumwelt an sich vorüberziehen.. Zum Beispiel im Regensburger Stadttheater. Ein Bericht über das Theaterleben schlechthin.
Sie sitzen im Theatercafe und reden sich die Köpfe heiß. Es geht um eine neue Inszenierung, um Goethes Jaust“, zu dessen Premiere sich am 18. März im Regensburger Stadttheater der Vorhang heben wird. Regisseur Friedrich Beyer und Bühnenbildner Klaus Roth diskutieren bei Kaffee und Zigaretten die Bühnengestaltung. Vorschläge werden gemacht, angenommen, verworfen, Dekoration und Kulisse dem Handlungsverlauf angepaßt. „Regie ist eben keine Arbeit eines Einzelnen. Dabei müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten.“
Bereits vor neun Monaten begann Regisseur Beyer mit den ersten Vorplanungen zu ‚ Faust“, traf die ersten Absprachen mit der „Bühne“, der Gewandmeisterin und dem Bühnenbildner. „Die Grundkonzeption eines Stückes steht dann meist sechs Wochen vor der Premiere fest. Einzelheiten werden jedoch weiterhin, genauer bis zur Hauptprobe, geändert. Aber schon drei Monate vor der ersten Auffüh-rung kennen die Hauptdarsteller den Text ihrer Rolle, und die Proben können beginnen.“
Friedrich Beyer spricht von seiner Arbeit: „Beim Faust versuche ich eine Lösung zu finden, die unsere moderne Zeit berücksichtigt. Das, was von Goethes Faust bis heute gültig geblieben ist, wollen wir dem Zuschauer verständlich machen. Ich habe nichts für ein Mysterienspiel übrig.“
Anhand der Dramaturgie verwirklichte der Regisseur seine Vorstellungen. Und nach einigen notwendigen Streichungen im Text kristallisiert sich das Bild der Inszenierung heraus. Besprechungen mit den Schauspielern und weitere Erörterungen mit der „Bühne“ runden das Ganze ab.
Aber die Welt des Theaters hört nicht beim Regisseur auf. Ein Stab von technischen Mitarbeitern garantiert den reibungslosen Ablauf eines jeden Stückes. Beleuchter, Bühnenarbeiter, Requisiteure, Statisten, sie alle müssen ihre Aufgabe kennen. Wen wundert es da, dass der Inspizient oft einen organisatorischen Feldzugsplan zu meistern hat. Ihm obliegt es, die Techniker durch eine „Extragage“ zu überreden, bei offenem Vorhang und Licht die Szenerie zu wechseln; denn dazu sind sie laut Tarifvertrag nicht verpflichtet. Und auf der anderen Seite bittet der Regisseur gelegentlich die Schauspieler (bei der Aufführung einer Posse etwa), die Aufgabe der Bühnenarbeiter mit zu übernehmen. Das geht meist ohne Probleme.
Schwierigkeiten tauchen jedoch fast immer dann auf, wenn man nicht mit ihnen rechnet. Regisseur Friedrich Beyer hat das schon oft erlebt. „Da habe ich mir eine Szene so einfach vorgestellt und bin im Geiste bereits beim nächsten Akt, und plötzlich geht es nicht weiter.“ In solchen Momenten fällt es in der sowieso schon turbulenten Theaterumgebung nicht leicht, die Ruhe zu bewahren. Und wenn es „um die Sache“ geht, hat Schöntuerei keinen Platz. Dann wird ein offenes Wort gesprochen, „zum Donnerwetter noch einmal“.
Während im Theatercafe noch Regiefragen des „Faust“ besprochen werden, treffen Bühnentechniker im Theater die ersten Vorbereitungen zur Hauptprobe von Ustinovs ge-sellschaftskritischer Komödie „Halb auf dem Baum“. Aber vor Beginn des ersten Aktes bleibt noch Zeit, sich auf der Bühne ein wenig umzusehen. Vor der Hauptbühne liegt in der Versenkung der Orchestergraben. Von dort aus, wo die Musiker bei Opern und Operetten ihre Pulte aufbauen, gelangt auch die Souffleuse an ihren Arbeitsplatz. (Souffleuse, sagte Klein-Fritzchen mal in der Schule, das ist die, die immer vorsagt, wenn sie auf der Bühne nicht mehr weiterwissen. Fritzchen wollte in der Schule beim Gedichtaufsagen auch gern „so eine“ haben.)
Wie fühlt man sich in solch einem „Kasten“. Also eingestiegen. Kaum ist mit wenig Geschicklichkeit beziehungsweise Verrenkungen der Platz der Souffleuse eingenommen, stößt der Kopf auch schon an die hölzerne Decke. „Zuerst einmal das Dach aufkurbeln“, rät ein Bühnentechniker. Gesagt, getan. Aber selbst bei aufgekurbeltem Dach darf eine „Vorsagerin“ keine 190 Zentimeter messen. Zwei geschlagene Stunden in diesem Gehäuse zu verbringen, mag selbst für eine kleinere Person kein reines Vergnügen sein, für ein Mitglied der langen Garde jedoch würden sie zu einer Tortur. Und doch: Die Souffleuse ist unentbehrlich. Deshalb wird der kleine Kasten da vorne auf der Bühne wohl nie verweisen. Schauspieler sind keine Automaten, sie könnten im entscheidenden Moment ihren Einsatz verpassen, und dann ist die Frau, von der meist nur der Kopf über die „Bretter, die die Welt bedeuten“, herrausragt, die letzte Rettung vor der Blamage.
Inzwischen beginnt es auf der Bühne zu rumoren. Die restlichen Kulissen werden aufgebaut, und aus der Höhe des Bühnenhauses schweben mehrere Züge auf die Bühne herab. Züge? Hier muss der Bühnenmeister helfen: „Unter Zügen verstehen wir Eisenstangen, die so lang sind wie die ganze Bühne und an Seilen von der Decke hängen.“ Soeben läuft ein Bühnenarbeiter eindrucksvoll mit einer Hauswand vorbei, die mehr als doppelt so hoch ist wie er selbst. Die Wand wird an einem der Züge befestigt und hochgezogen. So schnell geht beim Theater ein Hausbau aus Pappe, Farbe und Leinwand. Doch zuvor heißt es auskontern: Damit die Seile von der dem Zuschauer unsichtbaren Seitenbühne aus bedient werden können, muss durch schwere Eisenstücke ein Gegengewicht geschaffen werden. Dann lässt sich jedes Kulissenteil mit Leichtigkeit hochhieven.
Alles geht nach einem wohl ausgeklügelten Plan. Man sieht es deutlich: Die Männer sind bestens aufeinander eingespielt. Es „flutscht“, wie sie sagen, jeder weiß, was er zu tun hat. Dort hängen Dekorateure die Gardinen des englischen Landhauses auf, hier putzt der Requisiteur in einer stillen Ecke ein paar Whiskygläser. Und dabei darf man seine Bedeutung nicht unterschätzen. Er ist der Mann, der den ganzen stücknotwendigen Krimskram des Theaters bedenken muss; von Messer und Gabel (falls gegessen wird) bis zu Gläsern und Flaschen (falls getrunken wird). In Ustinovs „Halb auf dem Baum“ wird beides. Die letzte Szene spielt sogar an einer festlich geschmückten Hochzeitstafel. In der Flasche, auf der original Scotch Whisky“ steht, sucht man jedoch vergeblich nach „scharfen Sachen“. Auf der Zunge bleibt der Geschmack von Apfelsaft. „Wo kämen wir auch hin, wenn die Schauspieler jedes Mal echte Getränke verkonsumieren würden“, meint der Requisiteur. Allein der Gedanke zieht seine Stirn in Kummerfalten. „Sie liefen ja Gefahr, dass ihnen die Zunge schwer würde. Und das darf höchstens einmal dem Darsteller eines Betrunkenen passieren. Und dann auch nur gespielt.“ So wird also Whisky mit Apfelsaft vertauscht, und wo weißer oder roter Martini benötigt wird, hilft Trauben- oder Johannisbeersaft.
Mittlerweile ist die Bühnendekoration fertig. Das Wohnzimmer des englischen Landhauses, in dem das Stück spielt, „steht“, wie der Bühnenfachmann sagen würde. Tische, Stühle, Bilder, Sessel und Sofa sind an ihrem Platz, und die alte Standuhr hat auch eine Ecke gefunden. Der Bühnenmeister, der die Oberaufsicht führt, gibt ein paar letzte Anweisungen. Dann ist der Augenblick der Beleuchter gekommen. Jedes einzelne Bild hat seine ganz bestimmte Ausleuchtung. Jedes Stück des Mobiliars muss „ins rechte Licht“ gesetzt werden. „Brücke sechs kommt auf die Treppe“ heißt, dass alle Scheinwerfer der Reihe sechs die Treppe zum Obergeschoss anstrahlen.
Da jedoch alles bereits genau festgelegt ist, geht das Ausleuchten schnell vorüber. Der Beleuchter, der während der Aufführung die elektrische Anlage in der rechten Seitenbühne bedienen wird, braucht dann nur noch die Hebel und Schalter getreu seinem Beleuchtungsplan zu betätigen. Was für ihn ein wohl geordneter Mechanismus ist, erscheint dem Laien jedoch als ein Labyrinth aus unzähligen Scheinwerfern (dabei klagen die Regensburger Theaterleute, sie hätten zu wenig davon), Knöpfen, Rädern und Sicherungen. Nur das Bühnenverbot „Rauchen lass sein, die Feuerwehr schaut rein“, ist jedem sofort verständlich.
Endlich ist alles für die Hauptprobe fertig. Im Parkett haben sich Regisseur, Regie-Assistent, Bühnenbildner und andere Mitarbeiter niedergelassen. Zwischen zwei Stuhlreihen steht auf einem Pult das Telefon, das während der Szenen die Verbindung zum Bühnenraum herstellt. Letzt Korrekturen können damit schnell ausgeführt werden Noch einmal ein prüfende Blick zur Bühne: Ein typisch englisches Wohnzimmer biete sich dem Zuschauer dar. Au dem Kamin ein Generalsbild an den Wänden ein halbes Dutzend „original“ Ölgemälde. So sehen sie jedenfalls von weitem aus. Aber nur von weitem.
Voilà, die Sache steht, die Techniker und auch der Regisseur sind zufrieden; die Probe kann beginnen. In den Garderoben haben sich die Schauspieler inzwischen umgezogen. Der Maskenbildner hat diesmal keiner schweren Tag. Nur zwei Perücken holt er vom Regal, die Frisuren sind rasch gebaut, ein wenig Puder und noch etwas Schminke und „gut so“ Ein Klingelzeichen ruft die Schauspieler zur Bühne. Einige Bewegungen und Sätze werden rasch noch einmal an gespielt. Dann kommandiert der Inspizient: „Zuschauerraum Licht aus. Bühne frei. Bühnenlicht“.
Die Hauptprobe läuft. Vertreter der lokalen Presse machen sich im Zuschauerraum Notizen. Die Theaterkritik wird noch vor der Premiere erscheinen. Wie jedoch da Publikum das neue Stück aufnehmen wird, können auch sie nicht voraussagen. Da wird sich erst herausstellen, wenn der Vorhang nach der letzten Akt bei der Erstauführung gefallen ist.
Am Abend des nächste Tages fällt der Vorhang. Etliche Male müssen die Schauspieler zurück auf die Bühne, verneigen sich lächelnd, geben mit einer Handbewegung den Applaus an einen Kollegen weiter. Das Stück ist angekommen. Man kann zufrieden sein. Nach Wochen, ja Monaten der Vorbereitung ist die erste Aufführung „wie geschmiert“ gelaufen. Endgültig senkt sich der Vorhang. Der Beifall verebbt.
Februar 1969